Ereignisresistenter Denker

Intelligent, aber sehr unterhaltsam, moralisch, aber ohne falsche moralisierende Töne: Benjamin Kunkels in den USA gefeierter Debütroman „Unentschlossen“

VON MARION LÜHE

Dwight Wilmerdings Leiden hat viele Namen. Zwiespältigkeit, Faulheit, böse Absicht, früher Kontakt mit Drogen, Scheidung der Eltern, das halbinzenstuöse Verhältnis zu seiner Schwester, ein bisschen Wissen, aber nicht genug, Mäßigkeit, Maßlosigkeit, Geldmangel, um nur einige zu nennen. Umso erleichterter ist der 28-jährige New Yorker Philosophiestudent aus wohlhabendem Hause, als ihm sein WG-Mitbewohner, der Mediziner Dan, eine eindeutige Diagnose stellt: chronische Unentschlossenheit, in der Fachterminologie gern auch „Abulie“ genannt, eine durch fehlgeschaltete Neurotransmitter im medialen Vorderhirn ausgelöste Störung.

Zum Glück ist Heilung in Sicht. Der Pharmakonzern, für den Dwight als Telefonberater im Technical Support jobbt, hat ein Medikament entwickelt, das sich allerdings noch in der Testphase befindet. Auf Drängen des Freundes stellt sich Dwight als Proband für „Abulinix“ zur Verfügung. Die blau-weißen Kapseln und jede Menge kluger Sprüche seines deutschen Lieblingsphilosophen Otto Knittel im Gepäck, fliegt Dwight nach Ecuador, wo er mit Brigid, einer belgischen Anthropologin, eine Dschungel-Tour macht.

Wie in einer menschlichen Versuchsanordnung schickt Benjamin Kunkel seine „beiden Hauptfiguren mit ihrem gemischten Agonisten-Antagonisten-Profil“ durch Ecuador: sie, die taffe Umweltaktionistin und Globalisierungsgegnerin. Er, der philosophisch halbgebildete, drogenerprobte No-Future-Zyniker, dem angesichts der Erderwärmung und Wälderabholzung einfällt, die Tropen in einen riesigen Golfplatz zu verwandeln. Während Brigid wortreich die Ausbeutung der Dritten Welt durch die westliche Zivilisation anprangert, sehnt Dwight sich nur danach, seine „eigene Version des American Way of Life weiterleben zu können“, in einer dschungelfreien Umgebung mit nicht-ecuadorianischem Essen, frischer Wäsche und Fernsehen.

In seinem in den USA überaus erfolgreichen Debütroman „Indecision“ schildert Benjamin Kunkel den Wandel eines ewig Pubertierenden zu einem sozial engagierten, demokratisch gesinnten, politisch-ökologisch durch und durch korrekten Zeitgenossen – ob unter dem Einfluss von „Abulinix“, psychedelischer Drogen oder der schönen Brigid, bleibt zunächst dahingestellt. Die im Dschungel Ecuadors gewonnene Erkenntnis seines Helden, dass sich das Private nicht vom Politischen trennen lässt, liegt auch der halbjährlich erscheinenden Kulturzeitschrift n+1 zugrunde, die der 33-jährige Benjamin Kunkel 2004 mit drei Freunden gegründet hat. Die Zeitschrift, die sich ausdrücklich auf die Frankfurter Schule beruft, zugleich aber auf Distanz zu jeder allzu akademischen Theorie geht, bietet neben Literaturbesprechungen, Kurzgeschichten und Kunst auch Artikel zu sozialkritischen Themen und politische Kommentare.

Darin äußert sich Kritik am Lebensgefühl einer in Zeiten des Kalten Krieges aufgewachsenen Generation, die nicht erwachsen werden musste, weil die Zukunft jederzeit ausfallen konnte, die den Rückzug ins Private angetreten und es sich behaglich in der Kulturszene eingerichtet hat, statt das nötige politische Bewusstsein zu entwickeln. Jene „Ereignisresistenz“, die Dwight sich selbst und seinesgleichen attestiert, beschreibt er so: „Die Mauer ist gefallen, die ganze Welt hat sich verändert, und jetzt sterben wir nicht mehr in einem nuklearen Holocaust. Aber es fühlte sich nicht an, als würde etwas passieren – ich hatte jedenfalls nicht das Gefühl.“

Selbst das größte traumatische Ereignis in der jüngeren amerikanischen Geschichte ist scheinbar spurlos an ihm vorbeigegangen. Nach einer Nacht im Ecstasy-Rausch klettert Dwight am Morgen des 11. September noch halbbenommen auf das Dach seines Hauses, von wo er fasziniert den Einschlag der beiden Flugzeuge in die Doppeltürme des World Trade Center beobachtet. Danach nimmt er die U-Bahn nach Brooklyn, schläft mit seiner Freundin und lebt sein Leben weiter, „als wäre es irgendwie normal und funktionierte automatisch“.

Zu plötzlich vollzieht sich die wunderbare Wandlung vom chronisch unentschlossenen Egomanen zum überzeugten Vorkämpfer der Demokratie, der von seiner bolivianischen Aktionszelle aus „in einer riesigen Einfühlungsepidemie die Welt reparieren“ möchte, als dass sie wirklich schlüssig wäre. Auch Dwights Idee vom demokratischen Sozialismus, der für eine gerechtere Verteilung von Freiheit und bessere wirtschaftliche Vereinbarungen zwischen armen und reichen Ländern steht, ist für einen mit allen Wassern des Zynismus gewaschenen Philosophen dann doch etwas zu banal.

Aber diese Konstruktionsschwäche ebenso wie das aufgesetzte Ende sieht man dem mit leichter Hand geschriebenen, streckenweise sehr komischen Roman gerne nach. Er ist auf intelligente Weise unterhaltsam, ohne intellektuelle Geröllmassen vor sich herzuschieben, und vertritt selbstbewusst eine Moral, ohne je in einen moralisierenden Ton zu verfallen. Dass Kunkel selbst den Erfolg seines dezidiert politischen Buches für ein Missverständnis hält, steht auf einem anderen Blatt.

Benjamin Kunkel: „Unentschlossen“. Aus dem Amerikanischen von Stefanie Röder. Bloomsbury Verlag, Berlin 2006, 315 Seiten, 19,90 Euro