„Der Überwachungsstaat war nicht perfekt“

FLUCHT Peter Wensierski hat die Geschichte eines Studentenpaares in der DDR aufgeschrieben, das über China in den Westen floh. Auch damals habe es Freiräume gegeben, sagt er

Die Frage „Gehen oder bleiben?“ wurde immer zentraler in den Familien- und Freundeskreisen

INTERVIEW ANJA MAIER

taz: Herr Wensierski, gerade ist von Ihnen „Die verbotene Reise“ erschienen, die Geschichte eines jungen Studentenpaares aus Ostberlin, das Mitte der achtziger Jahre illegal über die Sowjetunion bis nach China reist. Wie kamen Sie zu dem Thema?

Peter Wensierski: So wie man die besten Themen findet: durch einen Zufall. Mir erzählte eine Frau beiläufig von jemandem aus Prenzlauer Berg, der über China in den Westen abgehauen war. Das interessierte mich sofort. Ich rief diesen Mann, Jens, an. Ich erfuhr, dass damals auch seine große Liebe dabei war, Marie. Die suchte und fand ich. Und auch sie war sofort bereit zu einem Gespräch. So etwas hatte ich aus der DDR noch nicht gehört. Ich finde, dass die beiden eine Geschichte verbindet, die unbedingt heute noch einmal erzählt werden musste.

In dem Buch tun zwei unauffällige DDR-Bürger etwas gänzlich Verbotenes. Wie erklären Sie sich, dass im Überwachungsstaat solch ein Vorhaben gelingen konnte?

Die beiden sind eher zwei normale DDR-Bürger, keine Oppositionellen, aber auch keine Angepassten. Es gab unheimlich viele Leute wie Jens und Marie, die nach Lücken im System gesucht haben, ihr Leben so zu leben, wie sie leben wollten unter den gegebenen Bedingungen. Es war viel mehr möglich, als man dachte, wenn man es nur probierte. Der Überwachungsstaat war nicht perfekt. Die Leute in dieser Abenteuer- und Tramperszene haben sich zudem untereinander über Tricks und Schlupflöcher ausgetauscht.

Woher nahmen die beiden den Mut, ja Übermut? Die Sache hätte für sie im Gefängnis enden können.

Sie waren jung, sie wollten sich das nicht vorschreiben lassen. Sie waren verliebt. Sie suchten das Abenteuer, auch unter den Bedingungen der DDR. Und sie waren selbstbewusst. Selbst wenn ihnen Knüppel zwischen die Beine geworfen wurden, war ihre Maxime: Wir geben nicht auf, wir versuchen was anderes.

Die beiden lebten Mitte der Achtziger am Wasserturm in Prenzlauer Berg. Sie selbst haben bis 1985 für Westmedien aus Ostberlin berichtet. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Als eine wirklich aufregende Zeit. 1979 war ich das erste Mal als Journalist in Ostberlin. Vom ersten Tag an war zu sehen, dass unter der scheinbar grauen Fassade ein buntes Leben herrschte. Rebellion und Widerstand lagen in der Luft, die Suche nach kultureller Selbstständigkeit war überall sichtbar. Überall, ob in Leipzig, Dresden, Berlin oder Rostock, gab es junge Leute, die anders leben wollten als der Rest der Gesellschaft. Das war im Westen in den 70er Jahren schon so, in der DDR war es so in den 80ern. In den besetzten Wohnungen, in den Hinterhöfen und auf den Dachböden gab es eine Subkultur. Ich fand das als Journalist total spannend und wollte die Leute im Westen darüber informieren, dass es abseits des offiziellen DDR-Bildes junge Leute gibt, die denen im Westen gar nicht so unähnlich waren.

In dieser Zeit begann auch die größte Ausreisewelle aus der DDR. Allein 1984 verließen 41.000 Menschen das Land. Welche Wirkung hatte diese permanente Abschiedssituation auf das Miteinander?

Die Frage „Gehen oder bleiben?“ wurde immer zentraler in den Familien- und Freundeskreisen. Auch Jens und Marie schüttelt ja diese Frage. Die beiden beantworten sie letztlich gegensätzlich. Es gibt da diesen Satz, den Jens beim Abschied von Marie sagt: „Ich bin wütend über ein Land, das Menschen in so eine Situation bringt, in der wir jetzt sind.“ Diese Situation war überfordernd, und es sind bei vielen Menschen damals sicher Entschlüsse gefallen, die man später bereut hat.

Sie haben kürzlich direkt um die Ecke von Maries und Jens’ Wohnung in der Rykestraße den neuen Bewohnern diese Geschichte aus der Vergangenheit des Viertels erzählt. Wie waren die Reaktionen?

Es war sehr voll, doch soweit ich weiß, war nur ein alter Bewohner des Hauses darunter, der hat sich gefreut, die beiden wiederzusehen. Ich erzähle im Buch, wie Jens und Marie damals die Freiheit auf den Dächern des Prenzlauer Bergs genutzt haben. Sie haben dort gesessen, geschlafen, den Sonnenuntergang beobachtet. Sie hatten den Blick über die Stadt. Heute ist dort, wo sie durch eine Luke hinauskonnten, eine Dachgeschosswohnung und der Weg zu Freunden, einfach über die Dächer, mit Stacheldraht versperrt. Dieses Stück Freiheit gibt es also nicht mehr. Menschen, die heute die Freiheit auf den Dächern Berlins suchen, müssen dafür teuer bezahlen. Im Rückblick scheint mir die Freiheit von Jens und Marie mitunter größer und authentischer gewesen zu sein als die der Menschen heute in ihren exklusiven Penthäusern.

■ Peter Wensierski: „Die verbotene Reise. Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht“. DVA, März 2014, 256 Seiten, 19,99 Euro