Angewandte Sozialkunst

In einer Videoarbeit überredete Zmijewski einen ehemaligen KZ-Häftling dazu, sich die verblasste Häftlingsnummer neu zu tätowieren

Im hintersten Winkel der documenta XII im Jahr 2007 versteckte sich Artur Zmijewskis Film „Them“. Ein paar Leute aus Polen waren darin zu sehen. Sie sollten in einem Workshop ihre unterschiedlichen politischen Ansichten zu Papier bringen, in symbolischen Darstellungen, über die bald ein handfester Streit entbrannte. Plakate wurden übermalt, zerrissen, schließlich in Brand gesteckt.

„Them“ ist ein Kunstwerk, in dem es um etwas geht – um Demokratie, um die Repräsentation von Inhalten, um Menschen im Streit. Und zugleich ist „Them“ auch eine Versuchsanordnung, die auf die Rolle der Kunst in der politischen Öffentlichkeit abhebt. Es sind wohl diese Themen und der Mut zu ihrer kontroversen Behandlung, die Artur Zmijewski nun einen interessanten Auftrag eingebracht haben: Er ist zum Kurator der Berlin Biennale 2010 bestellt werden, deren Kunstwerke dann also von einem Kollegen ausgesucht werden.

Die Routine, in die diese für den Kunststandort Berlin so wichtige Ausstellung zuletzt zu geraten drohte, wird durch den 1966 in Warschau geborenen Zmijewski sicherlich durchbrochen; von ihm kann man sich mehr erhoffen als eine gut durchdachte Künstlerliste und ein, zwei interessante neue Locations. Er wird vielleicht seine Form des sozialen Experiments, die er in Filmen wie „Repetition“ dokumentiert hat, auf das Modell einer Gruppenausstellung zu übertragen versuchen.

Auf jeden Fall aber darf man von Zmijewski ein Interesse an sozialen und politischen Zusammenhängen erwarten. Immerhin hat er selbst in einem Debattenbeitrag für ein polnisches Magazin den Begriff „angewandte Sozialkunst“ geprägt. Was er damit genau meint, ist so vielfältig wie die Liste seiner Arbeiten, vorwiegend in den Medien Fotografie und Video, in denen es sehr oft um Menschen geht, die körperlich behindert oder krank sind oder die schlecht bezahlte Arbeit verrichten müssen. Seine Kritiker werfen Zmijewski vor, er beute Leid ästhetisch aus. In einer besonders umstrittenen Videoarbeit zum Beispiel überredete er einen ehemaligen KZ-Häftling dazu, sich die verblasste Häftlingsnummer neu zu tätowieren. Er würde auf den Vorwurf vermutlich antworten, dass es ihm um eine Demokratie geht, in der die Schwachen eine besonders starke Stimme haben.

BERT REBHANDL