Prädikat „Unerziehbar“

EUGENIK Die aktuelle Integrationsdebatte spiegelt die Ängste der Mittelschicht. Schon früher wurde Einwanderung an Kriterien der „Nützlichkeit“ gemessen

■ lehrt Amerikanische Geschichte am Historischen Institut der Universität zu Köln. Zuletzt veröffentlichte er das Buch „Clios Natur. Vergleichende Aspekte der Umweltgeschichte“ (LIT Verlag 2008).

Die Intelligenten und Erfolgreichen sollten mehr Kinder bekommen; Immigranten mit niedrigem Intelligenzquotienten sollten an der Grenze aufgehalten werden und Frauen mit niedrigem IQ sollten für ihre hohe Geburtenrate nicht auch noch belohnt werden. Diese Forderungen stammen nicht von Thilo Sarrazin, sondern finden sich in einem Buch der Wissenschaftler Richard Herrnstein und Charles A. Murray, das bei seinem Erscheinen im Jahr 1994 in den USA heiß diskutiert wurde. Es trug den Titel „The Bell Curve“, zu Deutsch etwa: Normalverteilung.

Die Politik, so Herrnstein und Murray damals, solle den Zustrom von Einwanderern – etwa qua „Familienzusammenführung“ durch Heirat – beenden und nur jene ins Land lassen, die „kompetent“ seien. Doch die USA vernachlässigten die Unterschiedlichkeit der Einwanderer, was sich keine Gesellschaft erlauben könne.

„Rohe Rassenpornografie“

Die beiden Autoren, der Psychologe Herrnstein wie auch der Politikwissenschaftler Murray, gaben zahlreiche Interviews, in denen sie die Thesen des Buches teilweise noch verschärften. So erwähnte Murray in einem Artikel im ultrakonservativen Commentary die genetische Prädisposition von Juden für die Tay-Sachs-Erkrankung, um seine These von der Vererbbarkeit bestimmter „Eigenschaften“ zu belegen. Mehr als 500.000 gebundene Exemplare des dicken und in wissenschaftlichem Jargon geschriebenen Buches zum Preis von 30 US-Dollar wurden innerhalb kürzester Zeit verkauft. In der New York Times hieß es damals, das Buch sei „ein rohes Stück Rassenpornografie, die sich als ernsthafte Wissenschaft maskiere“.

Auch in der Rezeption der aktuellen Debatte um gewünschte und unerwünschte BürgerInnen hierzulande wiesen deutsche Medien von Anfang an auf die eugenischen Referenzen hin, mit deren Hilfe Sarrazin seine Thesen stützen und verwissenschaftlichen möchte. Und noch eine Parallele lässt sich zwischen den rassistischen Ausgrenzungdiskursen von 1990 und 2010 finden: Sie dienen dazu, anders gelagerte gesellschaftliche Probleme zu überdecken.

Zum Erfolg von „The Bell Curve“ stellte die damals anerkannte Fachzeitschrift Contemporary Sociology klar: „Wir sollten uns nicht mit dem Gedanken beruhigen, dass wir das Buch nicht ernst nehmen müssen, weil darin nichts Neues gesagt wird. Es gibt in der Tat etwas Neues – und zwar das Publikum und den Zeitpunkt.“

Das Blatt erinnerte zudem daran, dass alle, die zwischen 1911 und 1917 in die USA einwanderten, in Ellis Island einen IQ-Test absolvieren mussten. „Diese Neuankömmlinge, die meisten von ihnen Juden, Italiener, Polen und Slawen, schnitten dabei schlecht ab.“ Aus diesem Grund verlangten Eugeniker wie Edward A. Ross, angesehener Professor an der Stanford University, im Jahr 1923, diese Gruppen aus Lehrberufen herauszuhalten. Seine Begründung: Die Intelligenz der Amerikaner nehme ab – und dieser Niedergang würde an Tempo noch gewinnen, da sich die Bevölkerung zunehmend „rassisch“ durchmische.

Amerikaner werden dümmer

Carl C. Brigham, Psychologieprofessor an der Princeton University, argumentierte zur gleichen Zeit auf der Basis des verfügbaren statistischen Materials aus den Intelligenztests der Armee. Seine Schlussfolgerung wies Afroamerikaner, Italiener und Juden genetisch als „unerziehbar“ aus. Das politische Resultat dieser Form der Wissenschaft waren die Einwanderungsgesetze von 1922 und 1924, die die Einwanderung aus Südeuropa und Osteuropa effektiv beendeten. Die Immigration Restriction League, die diese gesetzliche Quotierung der Einwanderung im Kongress durchgeboxt hatte, war keineswegs eine Versammlung Ewiggestriger oder ein Ausdruck der Dumpfheit ungebildeter Schichten, sondern Sprachrohr der gebildeten Mittelschicht.

Dieser Diskurs lebte bei „The Bell Curve“ siebzig Jahre später neu auf – und wird nun neunzig Jahre später von Thilo Sarrazin bedient. Das Interessante an „The Bell Curve“ war das pseudowissenschaftliches Argument, das Ergebnis der IQ-Tests sei zum großem Teil genetisch bedingt. Dabei hatte in den USA zur gleichen Zeit das groß angelegte Human Genome Project damit begonnen, die Struktur der menschlichen DNA zu entschlüsseln.

Vor allem von Genetikern, die an dem Projekt beteiligt waren, regte sich erbitterter Widerstand gegen die verstiegenen Thesen Herrnsteins und Murrays. In einer in Science, der international führenden naturwissenschaftlichen Fachzeitschrift, veröffentlichten Erklärung aus dem Jahr 1995 erklärten anerkannte Wissenschaftlerinnen, die Thesen der beiden Autoren von der Vererbbarkeit und Unveränderbarkeit von Intelligenz seien wissenschaftlich unhaltbar. Vielmehr sei Intelligenz in Bezug auf ihre Vererbbarkeit immer abhängig von den Umgebungen, in denen derartige Messungen stattfänden: „Verändere die Umgebung, und die Vererbbarkeit von Eigenschaften kann sich bemerkenswert verändern.“

Symptom für Krisenstimmung

Juden, Italiener und Polen schnitten bei IQ-Tests zu schlecht ab. Darum wurde ihre Einwanderung in die USA 1922 faktisch gestoppt

Entomologenbürokraten wie Sarrazin werden 2020 ebenso vergessen sein, wie Herrnstein oder Grant es heute sind. Interessant ist nicht die Frage nach den Motiven eines Sarrazin. Interessant ist nur die Frage: Warum sind die Argumentationsmuster scheinbar zeitlos? Warum tauchen in Debatten von 1910, 1990 und 2010 die gleichen Argumente auf?

Die USA vor dem Ersten Weltkrieg waren von einer Krisenstimmung gezeichnet, die mit den realen Verwerfungen wenig zu tun hatte – die großen Krisen wie der Börsencrash von 1929 und die Weltwirtschaftskrise 1932 bis 1941 kamen erst später. 1990 sorgten das Ende des Kalten Kriegs, aus dem die USA als einzige Supermacht hervorging, und die ökonomische Rezession für Verunsicherung. Heute ist die deutsche Mittelschicht von einer diffusen Angst befallen.

Der Verlust des Vertrauens in die politische Klasse, die Furcht vor dem Abstieg und damit vor der Zukunft sowie die rigide Umverteilungspolitik der schwarz-gelben Regierung mit ihrer „Leistungs“-Rhetorik haben den Thesen Sarrazins Auftrieb gegeben. Diese Probleme lassen sich aber durch Salonrassismus nicht lösen.

NORBERT FINZSCH