„Diese Fahrten müssen aufhören“

Selbst Flüchtlinge raten inzwischen zu Hause von dem Seeweg nach Europa ab, berichtet Maria de Donato vom italienischen Flüchtlingsrat. Ohne Erfolg. „Der Wunsch nach dem Eldorado ist stärker“, sagt sie

taz: Das Rote Kreuz meldet, noch nie seien so viele Bootsflüchtlinge auf dem Weg von Afrika nach Europa gestorben wie in diesem Jahr. Wie ist diese dramatische Entwicklung zu erklären?

Maria de Donato: Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Flüchtlinge auf ihrer gesamten Reise in Todesgefahr sind, nicht bloß bei der Fahrt übers Mittelmeer. In zahlreichen meiner Interviews mit Flüchtlingen war dies der Tenor. Die Menschen waren oft jahrelang nach Europa unterwegs, manchmal gar fünf bis zehn Jahre. Und praktisch alle berichteten, auf ihrem Weg durch die Sahara immer wieder Leichen am Wegesrand gesehen zu haben, oft nur notdürftig unter ein paar Steinen verscharrt.

Auf dem Meer aber scheint die Gefahr weiter zugenommen zu haben.

Auch dies sagten mir fast alle der Interviewten: Die Reise durch die Wüste würden sie wieder wagen, die Überfahrt über das Mittelmeer aber niemals mehr. Die Menschen stehen in dieser Situation stunden-, manchmal tagelang größte Todesangst aus. Und sie sagten mir auch, dass sie am Telefon ihren Freunden heftig von der Flucht übers Meer abraten – dass aber praktisch niemand auf diesen Rat hört. Der Wunsch, das europäische Eldorado zu erreichen, ist einfach stärker.

Warum ist die Situation auf dem Meer so dramatisch geworden?

Nicht zuletzt, weil die Schlepper anscheinend kaum noch selbst die Überfahrten vornehmen.

Wie läuft das Geschäft heute?

Fast immer verkaufen die Schlepperbanden den Flüchtlingen ein altes, meist auch noch kaputtes Boot. Die Menschen müssen die Schiffe dann notdürftig reparieren, bevor sie mit ihnen in See stechen. Da sind die Tragödien programmiert.

Was kann man tun?

Die Flüchtlinge, die ich gefragt habe, sagen oft selbst, es müsse alles getan werden, damit diese Fahrten übers Mittelmeer gestoppt werden. Aber ich will noch einmal unterstreichen: Das ist ja bloß die letzte Etappe des Dramas. Die Menschen sind aus Schwarzafrika über tausende Kilometer an die Mittelmeerküste unterwegs, und oft genug machen sie diese Reise gleich mehrfach, zum Beispiel erst in Richtung Marokko, mit dem Ziel Ceuta und Melilla, und wenn dort die Kontrollen zu streng sind, geht es zurück. Über den Niger führt dann der Weg nach Libyen.

Was ist nun Ihrer Ansicht nach zu tun?

Ich gehöre nicht zu denen, die propagieren, dass wir den Menschen die Gelegenheit lassen sollten, wie bisher übers Mittelmeer nach Europa zu kommen. Diese Reisen der Verzweiflung müssen einfach verhindert werden. Europa muss aber nicht über Abschottung, sondern über sichere Alternativen der Einreise nachdenken. Und Europa muss unmittelbar eine Lösung für die vielen auseinandergerissenen Flüchtlingsfamilien finden. Immer wieder habe ich von Fällen gehört, in denen der Mann auf Malta, die Frau mit den Kindern aber in Italien gelandet ist. Auf legalem Wege können diese Familien heute kaum zusammenkommen. Das führt dann zu neuen lebensgefährlichen Reisen, über die nie gesprochen wird – von Malta nach Italien. Als ich auf Malta war, waren dort drei Boote in See gestochen. Nur eines davon erreichte Italien.

INTERVIEW: MICHAEL BRAUN