Der selbstzufriedene Roman und das Theater des Geistes

MANIFEST Es gibt ein Unbehagen am realistischen Erzählen (à la Jonathan Franzen). Wer es teilt, sollte jetzt „Reality Hunger“ von David Shields lesen

VON STEPHAN WACKWITZ

Kein zeitgenössischer Leser wird die Gattungsbezeichnung von David Shields neuem Buch „Reality Hunger. A Manifesto“, das in den USA gerade ein ziemliches Echo ausgelöst hat, umstandslos wörtlich verstehen. Denn literarische Manifeste sind bekanntlich etwas von vorgestern. Sie stammen aus jener heroischen Kampfzeit, als sich moderne Literatur gegen die tradierte Übermacht des Naturalismus durchsetzen und ihre Legitimation begründen musste. Bretons „Manifest des Surrealismus“, das vorerst letzte, das sich selbst so richtig ernst genommen hatte, datiert von 1926.

Die deutliche Selbstironisierung der Gattung seither hat mit dem Ansehensverlust der politischen Revolution zu tun, aus deren publizistischem Arsenal sich die Literaten das Manifest ursprünglich ausgeborgt hatten. Wir glauben heute aber nicht mehr so recht an die Notwendigkeit einer Umstürzung aller Lebens- oder Literaturverhältnisse.

Und doch formuliert Shields ein weitverbreitetes und literatursoziologisch relevantes Unbehagen. Oder sagen wir mal: eine Mulmigkeit. Im deutschen Sprachraum hat Heinz Schlaffer 2002 in einem Aufsatz über den Roman als das letzte Stadium der Literatur in Sinn und Form diesem Missgefühl Ausdruck gegeben. Es richtet sich gegen die andauernde und ausufernde Monokultur naturalistischen Erzählens in der literarischen Gegenwartskultur.

Wie diese Monokultur stilistisch arbeitet, hat James Wood im New Yorker anlässlich seiner Rezension von Shields’ „Reality Hunger“ mithilfe einer kommentierten Parodie vor Augen geführt. Diese Bücher sind aus einer ziemlich begrenzten Reihe von Regeln und Tricks zusammengesetzt.

Genervt vom Fiktionalen

Da hätten wir, so Wood, zum Beispiel „die aus dem Film entlehnte von oben her einschwenkende Totale, der eine Auswahl kleiner, bezeichnender Details folgt. (Es war ein großer Raum, fast gänzlich angefüllt mit Reihen veralteter Computer; ein seltsamer Geruch von Aftershave und gebratenem Schinken lag in der Luft.) Das sorgfältige Vermischen handlungsorientierter und habituell bezeichnender Details (An einem der Computer verzehrte ein Mann in aller Gemütsruhe eine Frühlingsrolle; Verkehrslärm drang durch die dicken, fest verschlossenen Scheiben; eine Polizeisirene näherte und entfernte sich jaulend). Die Präferenz des Konkreten vor dem Abstrakten (Sie war Neunundzwanzig, aber sie kehrte immer noch jeden Abend in die Parterrewohnung ihrer Mama in Queens zurück, die dort tagsüber zugleich ein Yoga-Studio betrieb); lebhafte Kürze der Charakterskizzierung (Bob trug ein hellgelbes T-Shirt mit der Aufschrift ‚Got Beer?‘ und ein kleiner Leberfleck saß auf seiner Oberlippe); eine Menge gemütvoll-atmosphärischen Füllmaterials (Sie bestellte Bier und ein Sandwich, setzte sich an den Tisch und klappte ihren Laptop auf); mehr oder weniger geregelter Zugang zum Innenleben und zur Erinnerung der Figuren (Er lag auf dem Bett und ließ sich schamerfüllt durch den Kopf gehen, was heute passiert war); konventionell-verständlicher Satzbau mit gemäßigt-akzeptablen Lyrizismen (Er stand am Fenster und beobachtete, wie die Straßenlaternen mit bernsteinfarbener Zögerlichkeit zum Leben erwachten). Nicht zu erwähnen die alltägliche kleine Münze des fiktionalen Erzählens: Romane, in denen Figuren ‚fragend eine Augenbraue heben‘, ‚ärgerlich die Brauen zusammenziehen‘ oder sich einfach nur in von einzelnen Adverbien begleiteten Anführungszeichen äußern (‚Weißt du, das ist nicht fair‘, sagte er weinerlich).“

Gerade Literaturkennern und Viellesern geht das naturalistische Erzählen inzwischen immer öfter auf die Nerven. Besonders in der industriellen Vervielfältigung, die das zeitgenössische Literaturleben mit sich bringt. Und das Genervtsein vom Fiktionalen kann durchaus ehrenwerte literaturgeschichtliche Gründe ins Feld führen, denn – um noch mal James Wood zu zitieren: „Der Roman ist ein kulturgeschichtlicher Sonderfall insofern, als jeder, der heute genauso malen würde wie Courbet oder genauso komponieren würde wie Brahms, als Betrüger oder Fälscher dastehen würde. Während ein Großteil zeitgenössischer fiction die Codes und Konventionen – die narrative Basisgrammatik – Flauberts und Balzacs im Wesentlichen unverändert ausborgt.“

Es fragt sich mittlerweile wirklich, ob große Filmregisseure, die Coen Brothers zum Beispiel, diese Flaubert-Balzac-Basisgrammatik nicht virtuoser beherrschen als die meisten literarischen Epigonen des bürgerlichen Realismus. Shields geht über dieses literaturhistorische Argument jedoch hinaus und stellt – am Beispiel seiner Unfähigkeit, „Die Korrekturen“ von Jonathan Franzen zu lesen – das von Georg Lukács kanonisierte Konzept des realistischen Romans insgesamt infrage. Als etwas, für das ein intelligenter Mensch heute keine Zeit mehr hat. „Man muss siebenhundert Seiten lesen, um zu der Handvoll von Einsichten zu kommen, die der Grund für das Buch waren, und der ganze Apparat der Romanhandlung steht dann herum wie eine riesige, aufgetürmte, überladene Bühnendekoration.“

Manifeste übertreiben bekanntlich. Auch an dem gerade zitierten Satz ist auf den zweiten Blick fast alles falsch. Denn erstens werden realistische Romane nicht geschrieben, um eine Handvoll Einsichten zu transportieren. Das ist eine geradezu vorsintflutliche Literaturtheorie, nämlich die emblematische des Barock und der Aufklärung (die Erzählung als süße Ummantelung einer bitteren Wahrheitspille, die mit einer Art Versinnlichungsstrategie in Wirklichkeit verabreicht werden soll).

Bezüge nach Deutschland

Zweitens aber, und das ist wichtiger, lieben einfach Millionen von Lesern genau diese riesige, aufgetürmte, überladene Bühnendekoration, ob eine Handvoll von Einsichten dahintersteckt oder nicht. Sie möchten an ihren riesigen, aufgetürmten, überladenen Bühnendekorationen kein Ornament, keine einzige Säule, keinen Treppenaufgang missen. Sie können nicht genug kriegen von ihren geliebten, überladenen Bühnendekorationen. Ihnen das ausreden zu wollen, ist nicht nur irgendwie ein bisschen spielverderberisch, sondern schlimmer: Es ist eine radikalinskihafte Donquichotterie.

Interessanter ist, welche Art von Literatur Shields mit seinem Manifest stark machen will. Und da ist es ein merkwürdiger und lustiger Zufall, dass der Titel „Reality Hunger“ fast eine wörtliche Übersetzung des Buchtitels ist, mit dem eine buchlange Unterhaltungs- und Belehrungsessayistik vor genau dreißig Jahren im deutschen Sprachraum zum ersten Mal seit den Zwanzigerjahren wieder aufgetaucht ist: Michael Rutschkys „Erfahrungshunger“. Dieser „Essay über die Siebzigerjahre“, wie der Untertitel lautet, schloss die deutsche Literatur noch einmal an die Montaigne-Tradition an, die mit Jüngers „Abenteuerlichem Herzen“, Blochs „Spuren“, Benjamins „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, Adornos „Minima Moralia“, Krakauers „Die Angestellten“ in Deutschland in den Zwanziger- und bis in die Dreißigerjahre hinein blühte und die erst mit Sieburgs Paris-Buch nach dem Krieg endete (Benns „Weinhaus Wolf“ und die „Annäherungen“ des sowieso über jede Zeitströmung erhabenen Ernst Jünger sind weitere geniale Nachzügler gewesen).

Robert Musil hat in den Zwanzigerjahren im „Mann ohne Eigenschaften“ den Essay bekanntlich zu einer Methode nicht nur des Weltverstehens, sondern auch des Lebens gemacht; paradoxerweise beschrieb er sie in der Form eines Romans, was dazu beigetragen hat, dass der nie fertig wurde.

Der sozialdemokratische Neorealismus der „Gruppe 47“, der ja vielleicht der eigentliche „Kahlschlag“ des bundesrepublikanischen Kulturlebens war, hatte diesen seltsamen und interessanten Büchern in den Fünfzigerjahren vorerst den Garaus gemacht. David Shields Manifest kann jetzt helfen, ihre Tradition auch in Deutschland wieder aufzurichten.

Der angelsächsische Terminus für diese Art von Büchern (die in Amerika und Großbritannien angesehener sind als bei uns) lautet personal essay. Der wesentliche Unterschied zur naturalistischen Erzähltradition liegt gar nicht darin, dass die erzählt und der personal essay nicht. Erzählt wird auch in den Büchern, für die Shields kämpft. Der Unterschied liegt eher darin, dass das essayistische Erzählen nicht von Personen berichtet, in deren Leben und Charakter sich Ideen verkörpern, sondern dass darüber erzählt wird, wie Menschen zu bestimmten Ideen kommen und welche Folgen das für ihr Leben hat.

Allgemeiner Ideenklau

„The essay“, schreibt Shields, „is the theater of the mind.“ Damit hängt ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit zusammen. Der personal essay erfindet nicht eine Welt. Er schildert, wie Menschen mit der Welt und mit dem Leben geistig zurechtkommen. Intuitionen, Gedanken, Ideen, persönliche Obsessionen verhalten sich in diesem theater of the mind ähnlich wie erfundene Personen im Handlungsgeflecht des realistischen Romans.

Shields hat die Unterschiede der essayistischen und der fiktionalen Literatur in einem kleinen Mantra zusammengestellt, einer Art Nachtgebet für Essayisten: „The motor of fiction is narrative. The motor of essay is thought. The default of fiction is storytelling. The default of essay is memoir. Fiction: no ideas but in things. (Serious) essay (what I want): not the thing itself, but ideas about the thing.“

Aus 618 solcher Aphorismen, Anekdoten und literaturtheoretischen Haikus besteht Shields’ Buch. Vieles in seinem kunstvoll sprunghaften, inspirierend von sich selbst und seinen Thesen begeisterten Manifest beleuchtet instruktiv und interessant deutsche Diskussionen.

Zum Beispiel diskutiert Shields im Rahmen seiner essayistischen Literaturtheorie die Sampling-Methode des allgemeinen Ideenklaus, die schon so eindrucksvoll zum Entgleisen des Erstlingsromans von Helene Hegemann beigetragen hatte. Sampling nämlich ist für Shields die essayistische Methode schlechthin. Darin spiegelt sich die alte Erkenntnis Adornos, dass der Essay kulturell vorgeformte Materialien bevorzugt. Man könnte aber auch mit Shields darüber nachdenken, ob mit dem tatsächlich die zeitgenössische Kulturproduktion prägenden Sampling nicht essayistische Verhaltensweisen längst in den Quellcode unserer Rezeptionsweisen, Erwartungen und Formgesinnungen eingedrungen sind.

Kluge, Goetz, Rutschky

Bei der Beobachtung des Werks zum Beispiel von Rainald Goetz kann man auf solche Ideen durchaus kommen. Oder: In einer Kolumne im Merkur über das „Rumoren des Essays“ in zeitgenössischen Romanen ist Lothar Müller schon 2008 J. M. Coetzee auf die Schliche gekommen, wie er (in „Diary of a Bad Year“) „den Essay in das Terrain des selbstzufrieden gewordenen Romans hetzt, um dort Unruhe zu stiften“.

„Der selbstzufrieden gewordene Roman“ – Shields vergleicht ihn mit dem Jazz der klassischen Kunstperiode der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre und schreibt: „Jazz als jazz– der Jazz-Jazz – ist ziemlich am Ende. Die interessanten Sachen passieren alle an den Rändern und Ausläufern der Gattung, wo sich Jazzelemente mit Elementen aller möglichen Formen treffen. Jazz ist da dann ein Bestandteil, aber nicht der definitive. Etwas Ähnliches passiert in zeitgenössischer Prosa. Obwohl große und auch großartige Romane – Roman-Romane – immer noch geschrieben werden, passieren viele der interessantesten Sachen an den Ausläufern verschiedener Formen.“

Das ist eine Formulierung, die für mein Gefühl auch the most interesting stuff der deutschen Literatur nach 1945 beschreibt. Alexander Kluges Bücher zum Beispiel oder Heiner Müllers Theatertexte, Thomas Bernhards Prosa, Arno Schmidts „Romane“, Michael Rutschkys essayistische Protokolle der letzten dreißig Jahre, W. G. Sebalds „Prosabücher unbestimmter Gattungszugehörigkeit“ (wie er selbst seinen stuff bezeichnet hat), Kempowskis „Echolot“, Max Goldt, Eckhard Henscheid, Reinald Goetz, Gerhard Henschel.

Sogar noch ein so zeitgenössisches Buch wie Andreas Maiers „Heimatkunde“ ist unter anderem gerade deshalb interessant, weil es keine eindeutige Gattung hat.

Und gerade weil man bei der Lektüre solcher Bücher eigentlich nie recht weiß, was das eigentlich ist, was man gerade liest (weil sie ihre Gattungszugehörigkeit im Schreiben selbst erfinden), ist Shields’ Untertitel von „Reality Hunger“ nicht umstandslos wörtlich zu verstehen. Manifeste wissen, was sie wollen. Interessante Bücher wissen selber nicht genau, was sie sind. Ein Manifest der zeitgenössischen Avantgarde kann keine eindeutigere Losung ausgeben als die, dass man die Ränder beobachten sollte.

David Shields: „Reality Hunger. A Manifesto“. Knopf, 2010, 240 Seiten, 19,99 Dollar