„Deutsche Juden sind vorsichtiger mit Kritik“

David Goldberg, Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde in London, macht sich Sorgen um die Zukunft Israels. Das Gerede von einer muslimischen „Achse des Extremismus“, die Israel zerstören wolle, hält er jedoch für Panikmache

taz: Herr Goldberg, viele jüdische Verbände in Europa haben sich im Libanonkrieg vehement hinter Israel gestellt. Muss man als Jude immer für Israel sein?

David Goldberg: Es ist verständlich, dass die offiziellen jüdischen Organisationen Israel voll unterstützen und eine einheitliche Front bilden. Individuelle Juden stehen nicht unter demselben Zwang. Mir wäre jeder Jude verdächtig, der automatisch alles gutheißt, was von der israelischen Regierung getan wird – das ginge ja in Richtung Totalitarismus. In Großbritannien haben viele prominente Juden ihre Bedenken geäußert über Israels unverhältnismäßige Antwort auf die Tötung von acht Soldaten und die Entführung von zwei weiteren durch die Hisbollah. Ich verstehe aber, warum deutsche Juden vorsichtiger dabei sind, aus dem Glied zu treten.

Welche Rolle sollte Israel für Juden in der Diaspora spielen?

Leo Baeck beschrieb Israel und die Diaspora einst als „zwei Brennpunkte einer Ellipse“. Das wäre das ideale Verhältnis, aber das ist bisher nicht eingetreten.

Was ist ihre Einstellung zum Zionismus?

Ich denke, dass der Zionismus eine nationale Bewegung ist, die genauso verteidigt werden kann wie etwa der palästinensische Nationalismus. Aber Nationalismus ist lediglich eine historische Kategorie und wertneutral. Meiner Meinung nach gibt es zwingendere universale Normen.

Sie kritisieren, dass Israel bestimmte jüdische Traditionen verrät – was meinen Sie damit?

Habe ich das Wort „verraten“ benutzt? Wenn ich das wirklich getan habe, war das unvorsichtig. „Die Traditionen nicht erfüllt“, das wäre passender – mit der Anmerkung, dass in der chaotischen Welt der Politik alle Länder und Regierungen zwangsläufig die höchsten Ansprüche der Religion nicht erfüllen.

Viele Juden meinen, der Antisemitismus in Europa habe zugenommen. Was finden Sie?

Es gibt Anzeichen dafür, und das liegt an der andauernden israelischen Herrschaft über palästinensische Gebiete. Aber ich bin alt genug, um mich zu erinnern, dass Israel in der Zeit vor und nach dem Sechstagekrieg 1967 enorm beliebt war in Europa – besonders bei den Linken, weil der kleine sozialistische David dem reaktionären arabischen Goliath gegenüberstand. Jetzt erscheint Israel als Goliath.

Gerade der Antisemitismus unter Muslimen macht vielen Angst: In Frankreich ist er schon in Gewalt umgeschlagen.

Das, wie auch die vereinzelten Fälle in Großbritannien, sind Symptome für ein drängendes Problem in fast jedem europäischen Land: Wie integriert man eine wachsende muslimische Bevölkerung erfolgreich in einen modernen, multikulturellen Nationalstaat? Sind muslimische Gemeinschaften bereit, sich den Problemen zu stellen?

Viele sehen den Islamismus der Hamas, der Hisbollah oder des Irans als eine große Gefahr. Finden Sie das auch?

Der fanatische Antisemitismus, der den Schülern und der Bevölkerung in der arabischen Welt eingetrichtert wird, ist in der Tat sehr beunruhigend. Der religiöse Extremismus, wie er vom Iran gepredigt und von der Hamas und Hisbollah unterstützt wird, nicht zuletzt bei der Behandlung von Frauen, ist eine Bedrohung für liberale westliche Werte wie Gleichberechtigung und Toleranz. Aber ich bin skeptisch gegenüber dem panikmachenden Gerede von einem muslimischen „Bogen des Extremismus“, der Israel zerstören und die Welt beherrschen will. Es ist einfach eine historische Tatsache, dass sich die verschiedenen Fraktionen des Islams seit dem Tod des Propheten vor fast 1.400 Jahren nie einig waren oder für dieselbe Sache gekämpft haben.

Machen Ihnen die Rhetorik des iranischen Präsidenten und seine Atompläne keine Angst?

Die Rhetorik und verdrehte Logik des iranischen Präsidenten sind deshalb Besorgnis erregend, weil sie so stark von dem normalen diplomatischen Diskurs, mit dem zivilisierte Nationen ihre Beziehungen führen, abweichen. Natürlich wäre ich daher besorgt, wenn sein Regime Atomwaffen erlangt. Aber wenn er die USA verhöhnt oder fragt, warum der Westen nur Israel und einigen befreundeten Ländern Atomwaffen zugesteht, findet das Anklang auf den Straßen der arabischen Welt. Die Folgen der entsetzlichen Fehleinschätzung der USA in Sachen Irak werden uns alle verfolgen.

Viele Juden fürchten, dass Israels Existenz akut gefährdet ist. Glauben Sie das auch?

Ja, ich mache mir Sorgen um Israels Überleben. Aber nicht wegen der 5.000 Kämpfer der Hisbollah und ihrer Raketensammlung, die ein Ärgernis sind, aber keine wirkliche Gefahr für eine der mächtigsten Armeen der Welt. Ich mache mir Sorgen, weil nach mehr als 50 Jahren die Akzeptanz des Staates Israel im Nahen Osten noch immer erschreckend gering ist, weil die Beziehungen mit den Nachbarstaaten immer noch unnormal sind. Der Grund dafür ist die fehlende Einigung mit den Palästinensern. Und da sind wir immer noch weit von einer Lösung entfernt.

INTERVIEW: RALF SOTSCHEK