Mit der Leserolle zum Buch

Berlin testet ein neues didaktisches Mittel, um GrundschülerInnen mit Spaß ans Lesen von Büchern heranzuführen. Die Kinder bauen eine Leserolle aus Bildern, Kommentaren und Aufgaben – und verstehen so, wie Schriftsteller Geschichten erzählen

AUS BERLIN ALKE WIERTH

Anna liest jeden Tag ungefähr eine halbe Stunde. Im Moment am liebsten „Die wilden Hühner“, erzählt die Elfjährige. Wie zum Beweis hält sie ein grünes Ding hoch, so lang wie eine Rolle Kartoffelchips und mit Pferdebildern beklebt. Daraus zieht sie ein zusammengerolltes meterlanges Papier. Anna hat auf diesen Streifen alles geschrieben und gemalt, was sie an ihrem Lieblingsbuch besonders schön oder wichtig findet. Was wie ein Spleen der jungen Leseratte anmutet, ist in Wahrheit ein neues didaktisches Zaubermittel im Sprach- und Deutschunterricht – die Leserolle.

„Die Leserolle ist eine Langzeithausaufgabe für alle unsere Schülerinnen und Schüler der fünften Klassen“, sagt Irene Hoppe, Annas Deutschlehrerin. Die Kinder malen, schreiben und beschreiben auf dem langen Papierstreifen – und verstehen so das Buch, das sie gerade lesen. Irene Hoppe hat die Leserolle mitentwickelt, die so etwas wie eine spielerische Annäherung ans Buch ist – aber durchaus ernst. Die Schüler bekommen eine Liste mit Pflicht- und Wahlaufgaben, eine Bastelanleitung und einige Vordrucke, auf denen sie wichtige Angaben über das Buch notieren.

Anna zum Beispiel hat eine Karte mit Schauplätzen gezeichnet, an denen das Buch spielt. Sie hat ein „Abecedarium“ der wichtigsten Begriffe angelegt. Und sie hat die Stelle herausgeschrieben, die sie am allerliebsten hat. Außerdem hat Anna einen Brief an Cornelia Funke, die Autorin der „Wilden Hühner“, geschrieben, Informationen über sie aus dem Internet herausgesucht und eine Liste aller anderen Bücher der Schriftstellerin zusammengestellt. Kurz: Anna hat das gemacht, was sie als Germanistikstudentin auch machen würde – aus der Geschichte heraustreten, um der Autorin, ihrer Erzählweise und ihrem Stil auf die Spur zu kommen. In ein paar Monaten wird Anna, so die Idee, mehr als eine Leserolle besitzen.

Das Buch für eine Leserolle sucht natürlich jeder Schüler für sich aus. „Jungen entscheiden sich gerne für Sachbücher über Vulkane oder Erdbeben“, erzählt Irene Hoppe. Deshalb hat sie für solche Bücher eine eigene Aufgabenliste erstellt, zu der etwa gehört, ein kleines Quiz über das Thema des Buches zu entwickeln.

Die Leserolle ist eines der unzähligen pädagogischen Instrumente, die nach dem Pisa-Schock entwickelt wurden. Es soll den unter Legasthenieverdacht stehenden deutschen Schülern zugleich Spaß machen – und Lesekompetenzen vermitteln. Die Leserolle wird derzeit in einem Modellversuch in Berlin erprobt. Irene Hoppe ist zugleich Lehrerin und Mitarbeiterin in der Lehrerbildung.

Neun Stunden pro Woche unterrichtet Lehrerin Hoppe an der Grips-Grundschule. In der restlichen Zeit arbeitet die Dreiundvierzigjährige am Lisum, dem Berliner Landesinstitut für Schule und Medien. Das staatliche Institut ist für die Qualitätsentwicklung der Berliner Schulen, die Fort- und Weiterbildung von PädagogInnen und die Entwicklung von neuen Unterrichtsmaterialien zuständig. „Die Pisa-Ergebnisse haben uns wachgerüttelt“, sagt Hoppe. „Sie haben gezeigt, dass die Fähigkeit, Texte zu lesen und zu verstehen, die Grundlage für schulischen Erfolg bildet.“

Vor drei Jahren hat sich die Berliner Grips-Grundschule deshalb das Profil „Lesende Schule“ gegeben. „Viele unserer Kinder kommen aus Familien, in denen Lesen keine große Rolle spielt“, sagt Lehrerin Hoppe. Bianka Flemig, Leiterin der Grips- Grundschule, ergänzt: „Manche sprechen zu Hause kaum Deutsch.“

Die Grips-Grundschule liegt an der Kurfürstenstraße im Berliner Bezirk Tiergarten-Süd. Die Straße ist bekannt für ihre Drogenszene und für Straßenprostitution, und sie ist ein Wohngebiet für arme, oft eingewanderte Familien. Achtzig Prozent der Kinder an der Grundschule stammen aus Zuwandererfamilien. Lesen spielt in allen Fächern eine wichtige Rolle. Das Lisum hat auch den Mathekompass entworfen, eine kleine Anleitung, mit der Kinder üben können, auch schriftliche Matheaufgaben richtig zu verstehen. Es gibt Lesefeste an der Schule und jedes Jahr eine Zusammenarbeit mit dem Internationalen Literaturfestival Berlin. Dann finden an der Schule Begegnungen mit Schriftstellern statt.

Um auch die Eltern in die Aktivitäten der „lesenden Schule“ einzubeziehen, wurde im Lisum der Familien-Leserolli für Schulanfänger erfunden: ein Koffer voll mit Büchern und Hörspielen, den die Kinder für zwei bis drei Wochen mit nach Hause nehmen können. „Nur einmal haben wir den Rolli beschädigt zurückbekommen“, erzählt Irene Hoppe. Denn die Einsicht, dass Lesen eine wichtige Voraussetzung für Schulerfolg ist, sei auch bei den Eltern vorhanden, die selbst kaum oder gar keine Schulbildung haben.

Das Leseprofil hat die Grundschule äußerlich verändert. Eine kleine Bibliothek wurde eingerichtet, in den Fluren hängen Fotos aller Schüler, mit einem Buch in der Hand auf dem breiten roten Sofa sitzend, das die Schulbibliothek schmückt. „Das Sofa haben wir vom Quartiersmanagement bekommen“, erzählt Schulleiterin Flemig.

Quartiersmanager sind in Berlin im Auftrag des Senats für Stadtentwicklung in mittlerweile mehr als fünfzehn sozial benachteiligten Gebieten tätig, um dort die Lebensqualität durch Bündelung und Vernetzung sozialer Einrichtungen, auch durch Bürgerbeteiligung zu verbessern. Mit ihren Sonderetats fördern sie auch die in den Gebieten ansässigen Schulen. „Ohne dieses zusätzliche Geld hätten wir die Umstrukturierung unserer Schule kaum schaffen können“, sagt Bianka Flemig. Denn der normale Etat reiche gerade für die Aufrechterhaltung des Unterrichts.

Dabei lastet auf den Berliner Grundschulen großer Druck: Die Umstellung auf den offenen oder gebundenen Ganztagsbetrieb und die Einführung einer flexiblen Eingangsstufe für die ersten Klassen haben massive Umstellungen erfordert. Aufgerüttelt durch das schlechte Abschneiden Berlins in den Pisa-Vergleichsstudien suchen immer mehr Eltern sehr bewusst nach der richtigen Schule für ihr Kind. Schulen mit hohem Anteil von Kindern aus Zuwandererfamilien haben dabei gegen einen schlechten Ruf zu kämpfen.

Schulleiterin Flemig hat das in ihren Bemühungen um ein gutes Schulprofil nur bestärkt: „Wir sind ja auch jemand“, sagt sie. Auch die benachbarten Grundschulen haben sich für besondere Unterrichtsprofile entschieden. Es gibt eine Schule mit Theaterprofil, eine musikbetonte und eine katholische Grundschule.

Der Konkurrenzdruck ist groß. „Eine Schule braucht bildungsinteressierte Eltern“, meint Frau Flemig. Denn ohne deren Unterstützung ließen sich viele engagierte Projekte nicht durchführen. Und sie ziehen die anderen mit.

Die hohe Zahl von Kindern aus Zuwandererfamilien wird an der Grips-Grundschule aber nicht als Problem betrachtet. „Wir machen Ländertage in unseren Klassen, an denen die Kinder die Herkunftsländer ihrer Familien den anderen vorstellen“, erzählt Irene Hoppe. Dann helfen auch die Eltern gerne mit: indem sie in der Schule landestypisches Essen kochen oder den Kindern Volkstänze oder Lieder aus ihren Herkunftsländern beibringen.

„Wenn ein Kind eine Leserolle über ein Buch in seiner Muttersprache erstellen wollte, wäre das kein Problem“, meint Irene Hoppe. Vorgekommen sei das aber noch nicht, denn die Kinder könnten in Deutsch viel besser lesen.

„Es sind oft nur einzelne Begriffe, die sie nicht kennen: Purzelbaum zum Beispiel. Da machen sie sich dann ihre eigenen Bilder, was das sein könnte: fliegende Bäume eben.“ Die intensive Beschäftigung mit den Büchern durch die Arbeit an den Leserollen hilft, solche Missverständnisse aufzuklären.

Anna jedenfalls ist das Lesen noch lange nicht langweilig geworden. Und ihre „Wilde Hühner“-Leserolle hat die Fünftklässlerin schon so oft präsentiert, dass die an den Ecken schon ganz ausgefranst ist.