Jeder ist ersetzbar

Ich kann nicht beurteilen, wie es heute ist. Aber im Februar 1992, als ich zur taz kam, hatte Kalle Ruch in der taz einen Ruf wie ein Donnerhall: Soeben hatte sich das Genossenschaftsmodell durchgesetzt, ein schmerzhafter redaktioneller Exodus war die Folge gewesen. Der Verlust war überall spürbar. Einige meiner Kollegen meinten sogar, das sei das Ende der taz. (Und vielleicht waren die, die so schmerzlich vermisst wurden, ebenfalls dieser Meinung gewesen. Waren sie womöglich auch gegangen, um ihre Unabkömmlichkeit zu beweisen?)

Noch bevor ich Kalle Ruch persönlich kennenlernte, lernte ich den Drei-Wort-Satz kennen, mit dem er das Lamento auf den Redaktionsfluren quittierte: „Jeder ist ersetzbar.“

Es ist ein doppelbödiger Satz, von dem ich zunächst nur seine Unerbittlichkeit wahrnahm: Noch während meiner Probezeit schlitterte die taz in eine ihrer vielen Rettungskampagnen. Nicht mehr vom kollegialen Exodus, sondern vom drohenden Stellenabbau war auf den Fluren plötzlich die Rede. Ich selbst hatte die dunkle Ahnung, nach nur vier Wochen ziemlich ersetzbar zu sein. Wollte ich nicht gleich wieder rausgeschmissen werden, müsste ich unbedingt sofort unersetzbar werden. Nur wie?

Letztlich gab es dann natürlich keine Kündigungen, und ich bin sieben Jahre lang tazlerin gewesen. In dieser Zeit habe ich gelernt: Tatsächlich ist in der taz wirklich jeder ersetzbar. Kalle aber nicht. Und die, mit denen Kalle besonders gerne arbeitet, auch nicht. Man kann das für Despotismus halten oder Überlebenswillen nennen. In jedem Fall ist es menschlich.

Fakt ist: Kalles Satz stimmt. In Arbeitszusammenhängen ist es gefährlich, sich für unersetzbar zu halten. Es macht selbstgefällig. Ich habe vor allem in der Chefredaktion versucht, das möglichst nie zu vergessen. Sondern mich immer zu fragen: Was biete ich dem Laden? Und was bietet der Laden mir? Als ich beide Fragen nicht mehr beantworten konnte, bin ich zu Kalle gegangen und habe um meine Demission gebeten. Ich habe die taz 1999 ohne Groll verlassen. Und Kalles Satz wie eine Abfindung in mein Leben als Freiberuflerin mitgenommen. Der Satz nämlich ist ungemein nützlich und motivierend. Wenn man erst einmal beide Seiten begriffen hat.

Zu Kalles „Jeder ist ersetzbar“ gehörte nämlich auch sein „Aber auf dich will ich (noch) nicht verzichten.“ Es ist die verbindliche Seite dieses Satzes. Sie erzählt von Zuneigung und Treue. Manchmal sogar von Schwärmerei (ich habe das oft miterlebt, wie Kalle ins Schwärmen geriet, nenne hier aber natürlich keine Namen). Und wenn es vorbei ist, ist der Satz auch noch ein Trost: Das Leben geht weiter. Nicht nur für dich, auch für mich.

In der direkten Zusammenarbeit habe ich Kalle immer als verbindlich und worttreu erlebt. Ein verlässlicher Geschäftspartner, der Kosten und Nutzen der Zusammenarbeit bis zur Unhöflichkeit offen abwägt. Ich glaube, Kalle taugt nicht zum taz-Denkmal. Nicht einmal für ein alternatives. Es zeichnet sich doch eher eine zwar extrem erfolgreiche, aber eben doch nüchterne Arbeitsbiografie ab: Für die taz war es immer nützlicher, dass Kalle ihre Geschäfte führt, als dass er es nicht täte. Und für Kalle war und ist es offenbar immer noch schöner, sich mit wechselnden Zeitungskrisen herumzuschlagen, als es nicht zu tun. Das freut mich für beide Seiten. Klaudia Wick

■ Klaudia Wick (geb. Brunst) war 1996 bis 1999 gemeinsam und gleichberechtigt mit Michael Rediske Chefredakteurin der taz