Gibt es die DDR noch?
JA

OSTALGIE Vor zwanzig Jahren unterschrieben die beiden deutschen Staaten den Einigungsvertrag. Die DDR verschwand – aber nicht aus allen Köpfen

Peter-Michael Diestel, 58, ist Rechtsanwalt und war der letzte Innenminister der DDR

Ja, die DDR existiert weiter in den Köpfen und Erinnerungen der Menschen. Und es ist wichtig, dass diese ihre Wurzeln mitnehmen – so wie es bei Westdeutschen selbstverständlich ist, dass die Zeit vor der Wende zur Identität dazugehört. Die Ost-Identität gibt den Menschen auch die Kraft der zwei Leben, die wir bei Angela Merkel, Lothar de Maizière und vielen anderen sehen: Sie haben Erfolg, gerade weil sie einmal alles aufgegeben haben. Die Ostdeutschen, die scheitern, werden hingegen ausgegrenzt und haben sich einreden lassen, sie seien minderwertig. Die Entscheidungen von Menschen in Diktaturen sind eben andere als in Demokratien.

Lea Rosh, 73, ist Publizistin und unter anderem Mitautorin des Stücks „Staats-Sicherheiten“ In den Köpfen vieler Menschen gibt es die DDR noch. Die einen sind Menschen wie der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, die sagen, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen. In ihrer Vorstellung hat sich etwas hinübergerettet, eine falsche Vorstellung vom Leben dort. Offenbar trauern sie der DDR nach. So lebt sie partiell weiter. Die anderen sind die Opfer, die an den Folgen von Verfolgungen und Haftstrafen leiden. Auch in ihren Köpfen lebt die DDR weiter, nur mit ganz anderen Vorzeichen. Sie leiden unter zerstörten Existenzen, sind oft arbeitslos, ohne befriedigendes Berufsbild. Sie leiden unter Schlaflosigkeit, denn ihre Erfahrungen verfolgen sie bis in die Träume. Das zeigt auch die Schlusssequenz in unserem Stück „Staats-Sicherheiten“. Da sagen die Darsteller: Die DDR hat ihnen ihre Ausbildung und die besten Jahre genommen. Die Opfer wissen daher: Die DDR war ein absoluter Unrechtsstaat.

Katrin Wagner-Augustin, 32, ist Kanu-Weltmeisterin und Olympia siegerin

Im Sport, gerade in den Trainingsmethoden, ist die DDR noch immer existent. Bis heute gibt es dort eine Ost-West-Trennung, die schon bei der Nachwuchsförderung beginnt. Sportschulen im Osten arbeiten eng mit Vereinen zusammen und bilden übergreifende Institutionen. Nach der Wende sind viele Sportler aus dem Westen in den Osten gewechselt, weil die Trainingsmethoden dort besser waren. Auch in meinem Alltag ist die DDR noch präsent. Das beginnt schon beim Einkaufen. Egal, ob ich Rotkäppchen-Sekt oder Spee-Waschmittel kaufe – all das sind Relikte aus der DDR.

Wolfgang Thierse, 66, ist SPD-Politiker und Vizepräsident des Deutschen Bundestages

Aber ja! Es gibt sie im Gedächtnis der Ostdeutschen, in dem manches im Rückblick verklärt wird – in Anfällen von Nostalgie, die auch kommerziell geschürt werden. Zweitens wirkt sie nach in den Prägungen, die 40 Jahre DDR hinterlassen haben. Dazu gehört eine nicht selten autoritäre Einstellung zur Politik: von denen da oben alles erwarten und dann enttäuscht sein, wenn die Wunder nicht eintreten. Dazu gehört auch die Gewöhnung an die Fürsorge des Staates und das durch den egalitären Charakter der DDR bestimmte Gleichheitsbedürfnis vieler Ostdeutscher, für das ich Verständnis habe. Drittens lebt die DDR als Mythos in einer Partei, der viele angehören, die mit dem SED-Staat identifiziert waren. Doch inzwischen ist die DDR in die Geschichtsbücher eingezogen, das schönste Kapitel ist das über die gelungene friedliche Revolution von 1989/90!

NEIN

Andreas Ludwig, 56, ist Leiter des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDRDie DDR ist mausetot. Sie ist teils historisiert, teils Gebrauchsgegenstand. Ihre Präsenz verdankt sie vor allem der Gegenwart. Dem Reiz der Fremdheit beispielsweise, der junge Menschen betrifft: egal ob als Teil des internationalen Hosteltourismus mit den spärlich erhaltenen Mauerfragmenten in Berlin oder in Designgeschäften mit den merkwürdigen Objekten einer internationalen optimistischen Nachkriegsmoderne. Weder die Teilung der Welt noch der Optimismus technischer Machbarkeit in den 50er und 60er Jahren sind heute noch verständlich. Hier ist die DDR so vergangen wie alle anderen Gesellschaften dieser Zeit auch. Anders im kommunikativen Gedächtnis der Miterlebenden: Sie können Vergleiche zu heute ziehen, die manchmal ungerecht ausfallen, aber eine kritische Kommentierung sein können. Und schließlich die politische Debatte. Gewaltenteilung, freie Meinungsäußerung, Reise-, Wahl- und Entscheidungsfreiheit – in der DDR Fehlanzeige. Die Diktatur zeigte sich im Zwang zur Konformität, dem autoritären Auftreten des Staates. Der Blick zurück mag das Auge für die Wahrung zivilgesellschaftlicher Standards schärfen. So gibt es die DDR noch als negativen Kontrast. Nein, die DDR gibt es schon lange nicht mehr, und doch ist sie im Spiegel der Gegenwart Teil einer Erinnerungskultur.

Ska Keller, 28, ist Grünen-Politikerin und seit 2009 Abgeordnete im EU-Parlament

Die DDR existiert nicht mehr. Es gibt sie höchstens noch in den Köpfen einiger Wessis (beispielsweise Edmund Stoiber). Wer durch Deutschland reist, wird feststellen, dass die Unterschiede in Deutschland nicht von einer Ost-West-Grenze abhängen, sondern zum Beispiel von Stadt oder Land, vom Alter, von der Herkunft, von der Subkultur, vom Einkommen, vom Einkommen der Eltern. Gerade beim Verdienst fällt auf, dass geringeres Einkommen in Neufünfland verbreiteter ist als im Westen. Das ist aber kein Naturgesetz, sondern lässt sich durchaus ändern. Wir sollten nicht länger versuchen, Ost und West krampfhaft zu definieren. Wer von Flensburg nach Ravensburg fährt, erleidet einen größeren Kulturschock als Reisende von der Lausitz nach NRW. Nur leider wagen noch zu wenige in Westdeutschland Geborene die Reise über die imaginäre Mauer und verpassen dabei einiges. Also Wessis, jetzt seid ihr dran, die Mauer in euren Köpfen einzureißen!

Peter Pragal, 71, war DDR-Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ und des „Stern“

In der Erinnerung ihrer ehemaligen Bewohner lebt die DDR natürlich weiter. Für junge Menschen jedoch, die bei der Vereinigung Kinder oder noch nicht geboren waren, ist die DDR Geschichte. Sie wissen, dass ihre Eltern in einem geteilten Deutschland gelebt haben. Aber Gesamtdeutschland ist für sie eine alltägliche Realität. Ihr Blick ist nach vorn gerichtet. Zwanzig Jahre nach der staatlichen Einheit reden wir immer noch von Ossis und Wessis – Schlagwörter, die der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Hunderttausende Ostdeutsche sind seither in den Westen gezogen. Und immer mehr Westdeutsche werden in ihren neuen Wohnorten in den neuen Ländern heimisch. Ost-West-Gegensätze verwischen sich. Aber Mentalitätsunterschiede werden bleiben. So wie es sie etwa zwischen Niedersachsen und Bayern gibt. Wenn ich manchmal meine alte Redaktion am Alexanderplatz besuche und mit jüngeren Kollegen rede, kann ich nicht erkennen, ob sie eine Ost- oder Westbiografie haben. Ein Beleg dafür, dass wir mit der inneren Einheit ziemlich weit gekommen sind.