Hundert Prozesse in 25 Jahren

Wer vor einer Klageflut durch das neue Antidiskriminierungsgesetz warnt, sollte einen Blick auf dessen Vorläufer im deutschen Recht werfen. Dann dürfte sich die Hysterie legen. Zwar verschwanden einige Diskriminierungen – aber Klagen waren selten

VON HEIDE OESTREICH

Wird das Antidiskriminierungsgesetz ein Papiertiger, der kaum Auswirkungen hat? Wird es ein bürokratisches Monstrum, das Chefetagen von Unternehmen lahmlegt? Die Einschätzungen, was dieses ungeliebte Kind der großen Koalition in der Praxis bewirken wird, gehen weit auseinander. Doch es gibt durchaus Indizien dafür, wie das Gesetz wirken könnte. Denn es hat Vorläufer im deutschen Recht.

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) soll mehrere Gruppen gegen Benachteiligungen in verschiedenen Lebensbereichen schützen: Weder im Geschäftsleben noch im Arbeitsleben soll jemand aufgrund des Alters, des Geschlechts, der Herkunft oder Ethnie, der Religion oder einer Behinderung benachteiligt werden. Für ein Merkmal aber gibt es schon lange einen Schutz in einem dieser Bereiche: Ein Gesetz gegen Geschlechterdiskriminierung im Arbeitsleben ist seit 1980 als Umsetzung einer EU-Richtlinie im Bürgerlichen Gesetzbuch in Paragraf 611a geregelt. Ähnlich wie im neuen AGG kann jemand, der seine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts glaubhaft gemacht hat, eine Entschädigung vom Arbeitgeber verlangen.

Wie hat das Gesetz gewirkt? Vor allem brach keine „Prozesslawine“ über Unternehmen herein, stellte die gewerkschaftsnahe Böckler-Stiftung fest: Ganze 112 Verfahren fanden die Forscher seit Einführung des Paragrafen, etwa die Hälfte war erfolgreich. Zum Vergleich: In der selben Zeit habe es über 50.000 Arbeitsrechtsprozesse gegeben. Die Fälle dokumentieren, dass Unternehmen lernfähig sind: In den 80ern klagten Frauen gegen offene Diskriminierungen durch Arbeitgeber. Da fand ein Gefängnisdirektor, im Strafvollzug seien Frauen als Wärterinnen nicht zu gebrauchen. Oder der Chef eines Tierheims meinte, Frauen könnten mit aggressiven Tieren nicht umgehen. „Solche Urteile gab es in der Anfangsphase, bis die Unternehmen begriffen hatten, dass man nicht mehr offen diskriminieren darf“, erläutert Sibylle Raasch, Professorin für öffentliches Recht in Hamburg und Vorstandsmitglied des deutschen Juristinnenbundes.

Besonders populär wurden die Urteile, nach denen Frauen in Bewerbungsgesprächen bei der Frage nach einer Schwangerschaft lügen dürfen. Auch bei Klagen gegen das Nachtarbeitsverbot oder die Benachteiligung von Teilzeitkräften spielte der 611a eine Rolle. Entscheidenden Einfluss hatte er, als die Elektronikerin Tanja Kreil sich im Jahr 2000 in die Bundeswehr einklagte. Zuvor aber hatten auch Männer das Instrument entdeckt: Sie erstritten Schadenersatz, weil Sekretärinnen- oder Assistentinnenstellen nur in der weiblichen Form ausgeschrieben waren. Berühmt wurden Klagen von Männern gegen Quotenregelungen im öffentlichen Dienst. Der EuGH verwarf danach eine starre Quotenregelung, die keine Ausnahmen zulässt, als männerdiskriminierend, billigte aber generell das Instrument der Quote – quasi ein Sieg für beide Geschlechter.

„Bei den dicksten Vorurteilen gegen Frauen hat der 611a ein Umdenken bewirkt“, resümiert Raasch, „doch vor allem hat man gelernt, weiter zu diskriminieren, es aber nicht mehr laut zu sagen.“ Denn wie beim neuen AGG ist auch beim 611a das Problem, dass die diskriminierte Person Anhaltspunkte für ihre Beschuldigung liefern muss. Der Arbeitgeber muss etwa bekundet haben, dass er keine Frauen beschäftigen will. Genau das verkneift man sich heute lieber.

Dennoch klagen Frauen auch dann selten, wenn sie gute Indizien liefern könnten, sagt die Rechtsberaterin Ute Wellner: Oft sitzen in ihren Fortbildungen Frauen, die weniger verdienen, als Männer in einer vergleichbaren Position. „Die sagen dann meistens: Ich will lieber meinen Arbeitsplatz behalten und keinen Ärger mit einer Klage riskieren“, berichtet sie. Deshalb sei es wichtig, dass nach dem AGG auch Gewerkschaften und Betriebsräte gegen Diskriminierungen klagen können.

Ansonsten ist viel von der „Mobilisierung“ eines Gesetzes abhängig: Ob man es bekannt macht und nutzt. Hier sieht Juraprofessorin Raasch einen eindeutigen Vorteil des AGG: „Nun werden die verschiedenen Antidiskriminierungsverbände aktiv, von Behinderten über Homosexuelle bis zu Migranten. Die werden breiter mobilisieren können.“