Blick ins Dickicht

AUFARBEITUNG Die Eltern des israelischen Malers Eldar Farbers haben den Holocaust nur knapp überlebt. Ausgerechnet der symbolträchtige deutsche Wald ist sein bevorzugtes Motiv. Eine Suche nach innerem Frieden

„Der Deutsche fragte, wie ich mich fühlte. Diese Frage hatte ich mir gar nicht gestellt“

ELDAR FARBER

VON MARLENE HALSER

Eldar Farber malt Wälder. Dichte, tiefe, dunkle Wälder, deren Dickicht nur hie und da ein paar Sonnenstrahlen erhellen. Als Kind hatte Farber vor dem Einschlafen von solchen Wäldern geträumt. Voller Wohlgefühl pflückte er darin Beeren und Nüsse von den Sträuchern. Gesehen hat er die Wälder seiner Träume zum ersten Mal vor fünf Jahren – mit 35, in Berlin und Umgebung. In Deutschland – in dem Land, in dem seine Eltern nur knapp dem Tod entkamen. „Ich hatte das Gefühl, diese Orte zu kennen“, sagt Farber nachdenklich. „Dabei gibt es solche Wälder in Israel gar nicht.“ Sein Blick schweift in die Ferne, bleibt starr an einem unsichtbaren, weit entfernten Punkt haften. „Fast so, als wären die Wälder in meinen Genen kodiert.“

Der 40-Jährige ist Sohn von Holocaustüberlebenden. Seine Eltern stammen aus Polen und überlebten die Schoah als Kinder nur knapp. Wenn Farber davon erzählt, bei einem Treffen in Tel Aviv, bekommt er Gänsehaut. „Dass sie nicht umgekommen sind, war so wahrscheinlich, wie durch den strömenden Regen zu gehen und nicht von einem einzigen Tropfen getroffen zu werden“, sagt er. Ein polnisches Kindermädchen versteckte Farbers Mutter bis zum Kriegsende in einer winzigen, fensterlosen Kammer hinter dem Schrank. Die Fünfjährige konnte gerade noch aus dem Ghetto fliehen, bevor ihre Familie nach Auschwitz abtransportiert wurde. Farbers Vater versteckte sich in der Abteilung für ansteckende Krankheiten in einem Krankenhaus im Ghetto Lodz, bevor er mit seiner Familie kurz vor Kriegsende in den Konzentrationslagern Ravensbrück, Sachsenhausen und Königs Wusterhausen interniert wurde.

„Für mich existierte Deutschland nur in Schwarzweiß, in ruckelnden Bildern einer alten Kameraaufnahme“, sagt Farber. Deutsch war für ihn eine Sprache, die man nur schreien kann. Vor einem Besuch in Deutschland hatte er immer Angst.

Diese Furcht ist auf Farbers Bildern erst auf den zweiten Blick zu spüren. Die meisten seiner Ölbilder zeigen menschenleere Waldszenen aus dem Berliner Tiergarten und den Vororten der Stadt: die Stämme im Vordergrund, im Hintergrund verliert sich der Blick im Dickicht. Zunächst sehen die Bilder einladend aus. Sonnenflecken erhellen das Grün und die Stämme und laden dazu ein, den federnden Waldboden zu betreten. Erst weiter hinten wartet im Dunklen das Unbekannte und irgendwie Bedrohliche. Dort, in der Ferne, wo Grün und Finsternis miteinander verschmelzen, kann alles lauern: das unvorstellbare Grauen ebenso wie eine einladende Lichtung im Sonnenschein.

Vor fünf Jahren wagte Farber sich zum ersten Mal nach Berlin, bewaffnet mit Pinseln und Staffelei. Er wollte die Stationen sehen, die sein Vater in Deutschland zurückgelegt hatte, suchte nach Antworten, nach dem „Warum“. „Meine Staffelei ist wie ein Schild für mich“, erklärt Farber. „Wenn ich in ihrem Schatten stehe, dann bin ich in Sicherheit, auf meinem eigenen Territorium, auf dem mir nichts passieren kann – wie auf dem Gelände der Botschaft für Kunst.“ So gerüstet, landete er in Tegel. Die Sonne schien, er sah die Landschaft zum ersten Mal in Farbe, traf warmherzige Menschen, mit denen er sich gut verstand. „Das alles war sehr verwirrend für mich“, sagt er, „ein einziger Widerspruch.“

Was er gedacht hatte und was er erlebte, passte nicht zusammen. Immer wieder kollidierten seine Gefühle. Es waren ganz alltägliche Situationen, die ihn am meisten verwirrten. Eines Morgens zum Beispiel, stand er in der Küche und spülte sein Frühstücksgeschirr. „Die Sonne schien, im Radio lief Musik und ich dachte: Was für ein wunderschöner Tag“, erinnert sich Farber. „Doch plötzlich erklang die Stimme des Radiosprechers und er sagte dröhnend ‚Guten Morgen, Berlin‘“. Farber ließ vor Schreck den Teller fallen.

Dass Farber nun ausgerechnet deutsche Wälder malt, erscheint wie der mutige Schritt in die Höhle des Löwen; als wolle er, dessen Familie so sehr unter den Deutschen zu leiden hatte, die deutsche Seele mit all ihren Licht- und Schattenseiten auf Leinwand bannen. Kaum ein deutsches Symbol ist so ideologisch aufgeladen wie Farbers bevorzugtes Motiv.

Seit der Romantik ist der „deutsche Wald“ Metapher und Sehnsuchtsort der Deutschen in Dichtung, Malerei und Musik, gilt als Sinnbild für die germanisch-deutsche Art und als genuin deutsche Kulturlandschaft – ein Bild, das sich bis heute in der deutschen Naturschutzbewegung erhalten hat.

Im Nationalsozialismus wurde das Topos des deutschen Waldes ebenbürtig mit der rassistischen „Blut und Boden“-Ideologie. Seine Bedeutung gipfelte im Bild der deutschen Eiche als nationalem Symbol für Stärke und Heldenmut. Während die Nationalsozialisten die Deutschen in der Nachfolge der Germanen als ursprüngliches „Waldvolk“ sahen, stigmatisierten sie die Juden als „Wüstenvolk“ und rechtfertigten unter anderem damit deren Diskriminierung und Verfolgung.

Farber wagt mit seinen Bildern das Unmögliche: Er, der Jude, der Vertriebene, der Sohn von Überlebenden, malt das innerste Wesen des Feindes mit einem Mut und einer Offenheit, ja mit einer Bereitschaft zur Vergebung, die dem deutschen Betrachter fast physische Schmerzen bereitet – und doch heilt er damit in erster Linie sich selbst.

Beim Besuch der Gedenkstätte des Konzentrationslager Ravensbrück lernte Farber einen jungen Deutschen kennen. „Groß, blond, blaue Augen, genauso, wie wir uns die Deutschen immer vorstellen“, sagt er. Sie begannen sich zu unterhalten – und waren sofort auf einer Wellenlänge. „Der Deutsche fragte mich, wie ich mich fühlte. Und da merkte ich, dass ich mir diese ganz simple Frage gar nicht gestellt hatte.“

Sie war nicht leicht zu beantworten. „So absurd das klingt: Auf der einen Seite fand ich Ravensbrück sehr schön“, sagt Farber. Das satte Grün der Bäume, ein kleiner See, in dem sich die Häuser spiegeln. „Aber gleichzeitig spürte ich den Boden unter meinen Füßen brennen.“ Als er zurück nach Berlin fuhr, hatte sich etwas verändert: „Ich war traurig. Aber ich trauerte nicht mehr um die Toten, sondern um die Überlebenden, um mich selbst.“

Denn seine Eltern hätten zwar Glück gehabt, den Holocaust zu überleben. „Aber kann man wirklich von Glück sprechen, Teil dieser Geschichte zu sein und diese schwere Bürde auf Lebenszeit mit sich zu tragen?“ Und noch etwas war ihm klar geworden: „Wir Israelis haben jemanden, den wir hassen können“, sagt Farber. „Die Deutschen dagegen müssen mir ihrer Schuld ganz alleine zurechtkommen.“ Nach seinem Besuch in Ravensbrück beschloss Farber, Deutschland zu malen. Sechs Mal war er in den vergangenen fünf Jahren in Berlin, blieb insgesamt zwei Jahre dort, wohnte zur Zwischenmiete in Mitte und Prenzlauer Berg. Damit ist er nicht allein: Immer mehr Israelis zieht es nach Berlin. Nach Angaben des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg hat sich die Zahl der Übernachtungen von israelischen Touristen in Berlin fast verfünffacht.

Gerade jüngere Israelis bleiben, wie Farber, oft für länger in der Stadt. Auch die Zahl der Israelis, die in Berlin gemeldet sind, hat zwischen 1999 und 2009 um fünfzig Prozent zugenommen. „Auf deutschem Boden zu stehen und zu malen und durch diesen Akt die Umwelt für mich neu zu gestalten“, sagt Farber und hält lange inne, bevor er weiter spricht. „Das war ein Transformationsprozess.“

Ende Juni ging Farbers Ausstellung in einer Galerie auf dem Tel Aviver Rothschild-Boulevard zu Ende. Sie war ein voller Erfolg, alle Bilder wurden verkauft. „Deutsche Landschaften“ war der Titel der Ausstellung.

Seit Anfang August ist Farber wieder für zweieinhalb Monate in Berlin. Durch seine Malerei habe er verstanden, dass er nicht nach Berlin gegangen war, weil er die Vergangenheit habe vergeben wollen, sagt Farber. Stattdessen habe er inneren Frieden gesucht. „Und ich hatte Erfolg. Jetzt fühle ich mich leichter.“