Der Schrecken im Klassenzimmer

Für eins von sieben Kindern ist die Schule ein Ort der Qual: Es wird über Wochen geschlagen oder beleidigt. Nun untersucht eine Studie, warum Kinder andere Kinder mobben. Sie zeigt: Täter erfassen das Machtgefüge im Klassenraum genau

VON COSIMA SCHMITT

Sie werden gehänselt, bespuckt und getreten. Ihr Schulweg wird zum Hürdenlauf, der Pausenhof zur Schreckensstätte. Eins von sieben Schulkindern wird systematisch schikaniert, weiß die Forschung. Doch die Ursachen sind kaum untersucht. Eine Pilotstudie der Uni München will dies nun ändern. Sie erforscht, warum in manchen Klassen Mobbing entsteht und andere verschont bleiben – und wie Erwachsene das Leid der Kleinen lindern können.

„Es ist skandalös, wie wenig viele Lehrer über Mobbing wissen“, sagt die Psychologin Mechthild Schäfer, die die Studie leitet und jetzt erste Zwischenergebnisse veröffentlicht hat. „Das Bild ist geprägt von Halbwissen und Klischees.“ So ist Mobbing keine Privatsache zwischen Opfer und Täter. Neun von zehn Kindern einer Klasse nehmen eine klar zuweisbare Rolle ein: etwa als Mittäter, Beifallklatscher oder als Tröster des Opfers. Schäfer korrigiert zudem das Stereotyp, dass der Täter ein körperlich überlegenes, sozial aber eher minderbemitteltes Kind sei. Er sei seinen friedfertigen Mitschülern sogar oft „soziokognitiv überlegen“, so Schäfer. Täter erfassen genau, welches Machtgefüge im Klassenraum besteht.

Und noch ein Klischee kann Schäfer entkräften: Lehrer und Eltern nehmen oft an, dass das Opfer etwas tut, das andere zum Piesacken ermutigt. Und dass es, verhalte es sich nur anders, dem Leid entfliehen kann. Doch ein Psychotraining fürs gemobbte Kind hilft wenig. Plötzliche Stärke ermutigt allenfalls den Täter, „jetzt erst recht zu zeigen, wer das Sagen hat“, so Schäfer. Nicht die Kinder selbst sind schuld an ihrer Rolle. „Es ist der Kontext, der Kinder zu Opfern macht“, sagt Schäfer. Gefährdet ist etwa ein Kind, das neu in eine Klasse kommt und dort keine Freunde hat. Ob aus einmal Hänseln tägliches Quälen wird, hängt aber vom Klassenklima ab: Gibt es Umstehende, die applaudieren, ist Anschnauzen ein akzeptierter Umgangston?

Jede Altersgruppe mobbt anders, fand das Münchener Forscherteam heraus. So beschweren sich Erst- und Zweitklässer lediglich über körperliche Attacken. „Der haut mich“, klagen sie. Ab der dritten Klasse stellten die Wissenschaftler auch ein Empfinden für verbale Gewalt fest. Die Kinder fühlen sich brüskiert, wenn jemand Gerüchte herumtuschelt.

Auch die Intensität der Schikane ändert sich. Zwar werden Grundschüler besonders häufig gemobbt. Doch sie sind meist nur kurze Zeit Opfer. „Der Täter streut seine Angriffe auf viele Kinder“, sagt Schäfer. Für das Opfer sei das ein „Riesenunterschied“: Es erlebe, dass es anderen genauso ergeht wie ihnen. Sie fühlen sich kaum stigmatisiert. Anders ist die Lage an den weiterführenden Schulen. Dort kommt Mobbing zwar seltener vor – aber wenn, dauert der Leidensweg oft Monate.

Aufklärung tut not, findet daher Schäfer. Sie hat eine Liste verfasst, die wahre Hilfe von Irrwegen scheidet. So sollten Eltern des Opfers nicht mit dem Täter sprechen. Denn der wertet dies als Indiz, das sich das Opfers nicht selbst wehren kann. Der Lehrer sollte in der Klasse zwar das Thema Mobbing ansprechen, aber nur in allgemeiner Form. Nennt er Namen, stellt er das Opfer bloß – und der Täter freut sich über so viel Aufmerksamkeit. Vor allem aber muss der Lehrer seine Worte mäßigen. Schuldzuweisungen à la „du solltest mehr aus dir herausgehen“ sind zu vermeiden. Problematisch sei es auch, das Opfer aus der Klasse zu nehmen. So lernt das Kind, dass es Sicherheit nicht erwarten und nur fliehen kann. Und der Täter fühlt sich bestärkt.

Das Problem lasse sich nur lösen, wenn die Lehrer umdenken, meint Schäfer. „Oft greifen sie viel zu spät ein. Sie sagen: Regelt das unter euch.“ Dabei helfe gegen Mobbing vor allem Prävention. „Der Lehrer darf erst gar kein Klassenklima entstehen lassen, das Gewalt gutheißt.“ Denn die Forschung ist sich einig: Mobbing ist mehr als ein Kurzzeitproblem. Viele Teenager sind danach gezeichnet.