„Wir sind Mangelwesen“

AFFÄRE „Mademoiselle Chambon“ erzählt, wie eine Frau in das Leben eines verheirateten Mannes tritt. Der Filmemacher Stéphane Brizé über die Ideologie der Liebe und über sein Vertrauen in die Macht des Kinos

■  geboren am 18. Oktober 1966 in Rennes. Nach einer Lehre geht er als Elektrotechniker zum Fernsehen. Schließlich besucht er in Paris einen Schauspielkurs und inszeniert mehrere Theaterstücke. Seinen ersten Kurzfilm „Bleu dommage“ realisiert er 1993, sein Langfilmdebüt „L’oeil qui traîne“ inszeniert er drei Jahre später. Seither mehrere Spielfilme, u. a. den auch in Deutschland gezeigten „Man muss mich nicht lieben“.

INTERVIEW BIRGIT GLOMBITZA

taz: Herr Brizé, in einem Ihrer früheren Filme, „Man muss mich nicht lieben“, ist es der Tango mit all seinen künstlichen Verzögerungen und Annäherungen, der das Leben eines Gerichtsvollziehers durcheinanderwirbelt. In „Mademoiselle Chambon“ reicht die Begegnung eines Maurers mit einer Lehrerin. Ist Ihre Erzählweise ökonomischer geworden?

Stéphane Brizé: „Mademoiselle Chambon“ ist tatsächlich viel schlanker erzählt. Es war für mich eine große Herausforderung, dieses beginnende Gefühl zu erfassen, ohne große Mittel dafür aufzuwenden. Ohne Tanz, ohne Musik. Vor Beginn der Dreharbeiten wurde mir deswegen richtig mulmig zumute. Ich habe zu mir gesagt, gut, ich nehme jetzt immer mehr raus, lasse alle Kunstgriffe weg, reduziere und reduziere. Und vielleicht stoße ich dann auf etwas sehr Pures. Doch ich war sehr in Sorge, ob ich mir mit dieser Entscheidung nicht zugleich auch ein narratives Sicherheitsnetz wegziehe. Haben meine Figuren noch genug Substanz, um in der Liebesgeschichte glaubwürdig zu bestehen? Das war ein sehr riskantes Unterfangen.

Jean ist Maurer. Er hat eine schöne Frau, einen wunderbaren Sohn, eine liebevolle Familie. Anders als im Vorgängerfilm ist der Alltag keine Spur monoton und frustrierend. Warum gibt es trotzdem diese Leerstelle in seinem Leben?

Das ist die Frage, die uns wohl alle umtreibt. Zunächst einmal gibt der Roman von Eric Holder selbst natürlich diese Ausgangssituation vor. Ich wollte mich mit jemandem befassen, der dem Anschein nach alle Voraussetzungen zum Glücklichsein hat. Trotzdem gibt es Teile in seiner Person, zu denen er nie Zugang hatte. Erst die Begegnung mit Mademoiselle Chambon bringt die zum Vorschein. Mit ihr entdeckt er sich selbst. Ich glaube, dass es im Leben eines jeden Menschen Augenblicke geben kann, in denen sich eine Tür öffnet, hinter denen man unbekannte Aspekte der eigenen Persönlichkeit erkennt. Mir war es wichtig, dass nicht atemberaubende Attraktivität oder knackige Jugend einer neuen Geliebten diese Tür aufstoßen wird, sondern eine ganz normale Frau.

Ist es eine Grundeigenschaft des Menschen, eine „condition humaine“, dass ihm etwas fehlt?

Davon bin ich überzeugt. Wir sind Mangelwesen und genau darin liegt unsere Tragik. Man kann auch an Platons Modell von den zwei Hälften, die sich suchen, um endlich wieder komplett zu werden, denken. Allerdings glaube ich, dass wir niemals und mit keinem Menschen der Welt uns wirklich zur höchsten Zufriedenheit komplettieren können. Das gibt es vielleicht nur im Tod. Da geht der Mangel in die Auslöschung oder ins große kosmische Ganze über. Je nachdem, woran man glauben möchte.

Hätte Jean auch seiner eigenen Frau auf die Weise begegnen können, wie er im Buch und Ihrer Adaption auf die Lehrerin trifft?

Ich denke, dafür sind die beiden Frauen viel zu unterschiedlich. Jeans Frau hat viele Qualitäten. Er hat sie sich gewählt, aber nicht er allein. Auch sein Milieu hat sie in gewisser Weise für ihn gewählt. Während Mademoiselle Chambon als Lehrerin Jean ein ihm unbekanntes Terrain zugänglich macht. Am Ende wird er ihr nicht dorthin folgen, sondern in seinem Milieu bleiben. Und man versteht schon von Beginn des Filmes an, warum das so ist und welcher Logik das folgt. Er ist von der Ordnung seiner vertrauten Umgebung geprägt und kann sie am Ende auch nicht überwinden

Die Liebe, vor allem die im französischen Kino, ist oft eine alles bestimmende Kraft …

Man kann gerade im französischen Kino schon von einer Ideologie sprechen. Die Liebe stellt alle Weichen, glättet alle Unebenheiten, verklebt alle Zweifel. Ich fand es interessant, von der Liebe einmal nicht als unhinterfragbare Schicksalsmacht zu erzählen, sondern sie, oder besser: ihre Bedingungen in Ordnungen und Räume aufzuteilen, sie also zu versachlichen und damit ihre Wucht und ihr Leiden vielleicht noch klarer auszustellen.

In „Mademoiselle Chambon“ sehen wir mit der Kamera immer wieder durch Fenster in Innenräume oder von Bergen ins Tal. Sollte sich die Geschichte über Ein- und Ausblicke erzählen?

Als Jean mit Mademoiselle Chambon auf dem Berg steht, sagt er einen Satz, der sehr, sehr wichtig ist und hoffentlich auch in der Untertitelung in seiner Bedeutung erkennbar bleibt. Er sagt auf die Frage, ob er häufig an diesen Ort komme: „Ich komme oft hierher, weil man hier in die Weite sehen kann.“ Hierin liegt genau das Manko seines Lebens: die Enge. Jean will Weite, er will weitergehen können, als es der Rahmen seines Lebens zulässt. Am Ende sieht man ihn und seine Frau durchs Fenster. Das ist eine Szene, wie ich sie mir immer erträumt habe. Genau nach diesem Blick haben wir auch das Haus ausgewählt, damit dieser Blick in seine Innenräume möglich wird. Ich wollte sie in ihrem Leben lassen, mich auf Zehenspitzen wieder davonstehlen, mich entfernen. Der Blick durchs Fenster ist zwar immer voyeuristisch, aber hier ist er sehr sachlich und behutsam, fast höflich.

Das stille ruhige Spiel von Sandrine Kiberlain und Vincent Lindon ist atemberaubend. Wie genau ist das durchkalkuliert, wie viel durfte improvisiert werden?

■  Jean arbeitet als Maurer. Als sich seine Frau eines Tages bei der Arbeit verletzt, holt er seinen Sohn an der Schule ab und lernt die Aushilfslehrerin Véronique kennen. Sie schlägt ihm vor, in einem kurzen Vortrag der Klasse seinen Beruf vorzustellen. Das ist der Anfang einer Liebesgeschichte und eines Dilemmas, für das alle Beteiligten kaum Worte, aber viele wunderschöne kleine Gesten und Blicke finden. Ein kunstvoll reduzierter Reigen wachsender Irritation und veräterischer Unaufmerksamkeiten. Choreografiert von Regisseur Stéphane Brizé, dem in „Mademoiselle Chambon“ das Kunststück gelingt, die Geschichte aller Geschichten zum tausendsten Mal auf ganz eigene Art zu erzählen.

■  „Mademoiselle Chambon“. Regie: Stéphane Brizé. Mit Vincent Lindon, Sandrine Kiberlain u. a. Frankreich 2009, 101 Min.

Ich weiß beim Drehen, wohin ich will, aber ich weiß noch nicht genau, wie ich dorthin kommen werde. Meine Schauspieler lesen zwar vorab das Drehbuch. Dann aber bitte ich sie, das Drehbuch wieder wegzuwerfen und stattdessen zu versuchen, die Dialoge mit eigenen Worten zu sprechen. Meistens kommen dann sie zu meinen Worten zurück, und wenn nicht, ist gerade das vielleicht das wirklich Spannende. Viel geprobt wird bei mir nicht, weil ich der Auffassung bin, dass die Schauspieler besser in die Szenen hineingehen können, wenn es da noch etwas Unbekanntes gibt.

Die Stärke des Films liegt sicher darin, eine große Liebesgeschichte über viele Kleinigkeiten zu erzählen. Wie haben Sie diese winzigen Erschütterungen, die das Leben der beiden aus den Angeln heben sollen, choreografiert?

Mein Problem mit Filmen, die im Erzählen immer komplexer werden, ist, dass das Ganze am Ende viel zu künstlich wirkt. Trotzdem braucht man eine dramaturgische Struktur, um den Zuschauer zu leiten, allein mit Blicken und Gesten funktioniert das wiederum nicht. Ich verwende meine Kamera in meinen Filmen eigentlich immer als Lupe, mit der ich bestimmte Momente und Gesten in voller Größe zeige und überhöhe. Bis die Kleinigkeiten, die man im Alltag nicht einmal bemerken würde, so zur Explosion gelangen. Darin liegen meine Höhepunkte, und darin liegt für mich auch die besondere Macht des Kinos.

Haben Sie so etwas wie eine Vision vom Kino? Wie soll, muss es sein?

Eine Vision kann ich aus dem Stand nicht formulieren. Aber was mich von einem Film zum nächsten bewegt, ist diese Feststellung, dass mein Vertrauen in diese Macht des Kinos immer weiter wächst. Das ist selbst so etwas wie eine Liebesgeschichte. Man braucht nicht immer den großen Tumult, das große Ereignis. Man hat als Regisseur schnell Angst vor dem Schweigen, vor dem Stillstand, vor dem ruhigen Meer. Aber auch unter der ruhigen Wasseroberfläche ist Leben und Bewegung. Man braucht keinen Tsunami.