Fred wird Vater und irrt umher

POSTSOZIALISMUS Das baltische, georgische und zentralasiatische Kino nimmt wieder Fahrt auf. Zu wenig Freude im Alltag – das macht Frauen und Männern zu schaffen (Forum)

VON BARBARA WURM

Draufgängerischer Existenzialismus aus Estland, melancholischer Humor aus Georgien, introvertierte Reflexionen über das Frausein aus Usbekistan und ein hochdepressives Endspiel aus Kasachstan. Das sind vier Autorenfilme im Internationalen Forum, die sich nur in einem – dafür zentralen – Punkt treffen: Sie sind, jeder auf seine Weise, auch als Kommentar zu der postsowjetischen Prägung der kulturellen und alltäglichen Lebensräume ihrer ProtagonistInnen lesbar.

Man mag es als aktualitätsbezogenen und (festival)politischen Fingerzeig werten, dass mit Ausnahme einer Kurzanimation kein einziger russischer Film bei der „Sotschi-Berlinale“ zu sehen ist, während die „ehemaligen Republiken“ der einstigen Filmgroßnation UdSSR präsent sind. Aber diese Programmierung spiegelt auch einen gewissen realen Trend wider: Das baltische, georgische und zentralasiatische Kino nimmt allmählich wieder Form an.

Veiko Õunpuus dritter Langfilm, „Free Range“, ist auf 16 mm gedreht, eine trotzig-radikale Absage an die Digitalkultur. Fred hat Potenzial, als Mann wie als Autor. Ein stilsicherer Bohemien, umgeben von Büchern, berauscht vom 70er-Jahre-Hippie-Rock (Soundtrack sichern!), seine Wirklichkeit liegt im Inneren, gebildet aus Sensualismus und Analytik.

Sympathischer Narziss

Seine Freundin (gehobene Familie) erwartet ein Kind, und alles gerät ins Stocken, geht auf Anfang, weiter. Er irrt umher und erinnert dabei an James Dean. Pubertierend-reif irgendwie, narzisstisch, aber sympathisch. Immer wenn er am Ende ist, besucht er seinen Vater – alte, heruntergekommene Sowjetintelligenz mit ausgeprägter Neigung zum Wodka. Jobs nimmt er nur an, um sie zu torpedieren. In seinem Kopf mag vieles unklar sein, aber seine Prosa ist bestechend klar: Es war einmal die Sehnsucht nach Würde, Lebenslust, Sein. Was aber soll das Dasein in einer Welt, in der es niemals Satisfaktion geben wird? Keine Freude im Alltag, keinen Stolz in der Arbeit, keine Hoffnung auf Besserung – in einer Kultur der materiellen Minderwertigkeit, beim Wohnen wie beim Essen?

Die Welt des Sandro, Lehrer in Tiflis, mit 40 noch wohnhaft bei den Eltern, ist diametral entgegengesetzt: Sie ist von Beginn an hoffnungs- und perspektivlos. Dass dieser Schüchti eine Frau braucht, meinen vor allem seine Mutter und sein bester Freund Ira. Doch zeigt sich, dass Sandro durchaus eigene Schritte machen kann, nur liegen die ziemlich quer zu allen Wegen, die sich ihm eröffnen.

Mit „Street Days“ hatte Levan Koguashvili 2010 bereits auf sich aufmerksam gemacht, mit „Blind Dates“ bestätigt er nun, dass er ganz zu Recht die georgische Kinorenaissance anführt. Beide Filme leben vom trocken-lakonischen Understatement der Inszenierung, beide bringen Profis mit Non-Actors zusammen. Der erste tendiert zum neorealistischen Drama. Mit jedem Blind Date Sandros aber entfaltet der zweite Film eine leichtgewichtige, witzige und doch traurige Tragikomödie, die die sozialen Symptome des postsozialistischen Alltags unterschwellig mitverhandelt.

Es ist wohl kein Zufall, dass die Lebenswelten der Protagonistinnen aus Saodat Ismailovas „Chilla – 40 Days of Silence“ (Usbekistan/Tadschikistan/Niederlande/Deutschland/Frankreich) und Zhanna Issabayevas „Nagima“ (Kasachstan) von einer ungleich größeren Schwere gekennzeichnet sind. Denn in den zentralasiatischen Staaten hat nicht nur aufgrund zunehmender Re-Islamisierung der Begriff „Schicksal“ Hochjunktur – gerade für Frauen. Beide Regisseurinnen finden aber Bilderwelten, die dieser Tragik und Ausweglosigkeit entgegenarbeiten.

Rites de Passage

Ismailova kreiert für die Rites de Passage ihrer jungen Heldin ein dichtes Universum von Wahrnehmungen und Empfindungen jenseits des Verbalen. Bibicha steht an einem Übergang und besiegelt diesen mit einem 40-tägigen Schweigegelübde im Haus ihrer Großmutter, in dem auch ihre Tante und die jüngere Cousine leben. Von unehelichen Kindern, realen Zwangs- und imaginären Liebesheiraten handeln die Biografien dieser Frauen. In den vier Generationen scheinen sich die jeweiligen Schicksale zu reflektieren, zu kommentieren und zu korrigieren.

Korrekturen schließlich bringt auch „Nagima“ an den etablierten Traditionslinien der kasachisch-postsowjetischen Gesellschaft an. Eine Kindheit im Waisenhaus, Garant für ein ewiges Ab- und Ausgestoßenwerden von Familie und Sozium, darf sich für die neue Generation nicht wiederholen. Nagima, dieses fragile, positive Wesen, entschließt sich zur äußersten Geste gegen die Gewalt – sie liebt ein ungeliebtes Kind. Sie rettet es. Sie tötet es.

■ „Free Range“, 9. 2., Cinestar 8, 19.15 Uhr; 10. 2., Colosseum 1, 20 Uhr; 12. 2., Cubix 7, 15 Uhr

■ „Blind Dates“, heute Delphi, 21.30 Uhr; 8. 2., Colosseum 1, 20 Uhr; 9.2., CineStar 8, 22 Uhr

■ „Nagima“, 10. 2. Delphi, 21.30 Uhr; 12. 2. CineStar 8, 16.30 Uhr; 13. 2., Arsenal 1, 15 Uhr

■ „Chilla. 40 Days of Silence“, heute, Delphi, 19 Uhr; 8. 2., CineStar 8, 11 Uhr; 9. 2., Arsenal 1, 12 Uhr