My home is my Casa

Die Liverpooler Hafenarbeiter, die Dockers, haben sich einen Ort geschaffen, an dem siesich gegenseitig in ihrer Arbeitslosigkeit helfen und miteinander trinken: die Kneipe The Casa. Auch andere Gruppen wie Palästinenser und Juden treffen sich dort regelmäßig. Ärger gibt es trotzdem nicht

Die Postadresse von „Casa“: 29 Hope Street, Hausnummer 29 in der Hoffnungsstraße

AUS LIVERPOOLDAMIANO VALGOLIO

Abends sieht die Innenstadt von Liverpool aus wie ein Boxclub. Vor jedem Pub versperren breite Schultern in schwarzen Jacken den Weg. Bouncer, „Abpraller“, heißen in England die Türsteher. Nur ein unscheinbares Backsteinhaus mit riesigen Fenstern und roten Sternen an der Fassade ist angenehm unbewacht. Hier braucht man keine Rausschmeißer, warum auch. Wer ist schon so verrückt und macht Stunk in einer Kneipe, in der sich Männer mit tätowierten Unterarmen und rasierten Köpfen drängen? Es ist der Pub der Liverpooler Hafenarbeiter, der Dockers: The Casa. Ärger gibt es hier nie. Im „Casa“ treffen sich aktuelle Dockers mit solchen, die schon länger nicht mehr im Hafen arbeiten. Die meisten der Gestalten an der Theke sind arbeitslos.

Tony Nelson überragt alle. Er lehnt an einer Wand und betrachtet seine WM-Wettscheine. Es ist schlecht gelaufen, wie schon so oft in seinem Leben. Nelson hatte auf England und Brasilien gesetzt. Neben ihm hängt ein Porträt von Mohammed Ali und eine Sammlung von Gewerkschafts-Buttons aus aller Welt. Sogar die längst in Ver.di aufgegangene deutsche ÖTV ist hier noch vertreten. „Als sie uns 1998 alle rausgeworfen haben, wollten wir sofort einen Pub aufmachen“, sagt Nelson, „wir brauchten einen Ort, um uns zu treffen und uns gegenseitig zu unterstützen.“ Dann lacht er: „Außerdem gibt es etwas, das alle Dockers gut können: Feiern und Bier verkaufen!“ Seit 1973 hat Tony im Liverpooler Hafen Schiffe beladen, bis 1995 der große Streik ausbrach. Zuerst ging es nur um die Forderung der Hafengesellschaft nach unbezahlter Mehrarbeit. Dann ging es um alles. Zweieinhalb Jahre hielten die Dockers durch. Tony Nelson war damals zuständig für die Organisation der Blockaden und der Streikposten. Fünfmal wurde er verhaftet, zweimal prügelte ihn die Polizei krankenhausreif. Schließlich wurde er 1998 mit 500 Kollegen endgültig auf die Straße gesetzt, ein Jahr später eröffneten Nelson und vier andere Hafenarbeiter „The Casa“.

Ein wenig erinnert Nelsons Geschichte an die Komödie „Ganz oder gar nicht“, in der fünf Arbeitslose eine erfolgreiche Stripper-Combo gründen. Aber Liverpool ist beileibe keine Filmwelt. Die Realität in der Beatles-Stadt ist brutaler – und politischer. Doch genau wie in der Kino-Schnulze könnte es sogar ein Happy-End geben. „The Casa“ ist der Lichtblick in einer traurigen Geschichte aus industriellem Niedergang und gescheiterten Kämpfen. Der Streik ist vorbei, aber immerhin ist das Streiklokal noch da. „Wir sind stolz auf diesen Ort“, sagt Tony Nelson, „er gibt vielen von uns Halt und einen festen Anlaufpunkt.“ Tatsächlich ist das „Casa“ mehr als eine Kneipe. Es ist ein soziales Zentrum, aber ohne die Ratten, schwarzen Kapuzenpullover oder bunten Haare der Punker, die man normalerweise dort vermuten würde.

Im ersten Stock bietet eine Kanzlei Hilfe bei Problemen mit Behörden oder Chefs an. Genügend Kunden gibt es ja. In Härtefällen verzichten die Anwälte da auch schon mal auf ihr Honorar. Und harte Fälle gibt es hier genug. Ein Stockwerk über der Kanzlei hat sich die Seemannsgewerkschaft SRU eingemietet. Außerdem haben die Dockers auf eigene Kosten zwei Sozialarbeiter angestellt. Im Keller finden wochentags kostenlose Tanzkurse und Schachturniere statt, der riesige Konzertsaal ist über Monate hinweg ausgebucht.

Möglich wurde die Eröffnung durch das Engagement des linken Starregisseurs Ken Loach. Der englische Meister des Sozialdramas erhielt vor wenigen Wochen in Cannes die Goldene Palme. 1996 regte er einen Spielfilm über den Kampf der Liverpooler Hafenarbeiter an. BBC-Regisseure drehten daraufhin „Dockers“, in dem Nelsons Kollegen am Drehbuch mitschrieben und als Statisten auftraten. Mit den 20 Prozent des Verkaufserlöses, die an die Dockers gingen, wurde schließlich das heruntergekommene Haus im Zentrum von Liverpool gekauft. Rund 20 Arbeitslose renovierten über ein Jahr lang, dann eröffneten sie ihr neues Domizil. Der neue Name ist an den alten Nachtklub „Casablanca“ angelehnt, der vor Jahren einmal in dem Gebäude residierte. Im Konzertsaal des „Casa“ erinnert eine goldene Plakette an Ken Loach. Daneben hängen Tafeln mit den Namen einiger hundert Unterstützer und Spender. Die Musiker von „Chumbawamba“ sind darunter und der wohl berühmteste Liverpooler, Ex-Beatle Paul McCartney.

Geschäftsführerin Jacqueline Richardson ist der einzige Profi im „Casa“. Es ist nicht der erste Pub, den sie leitet. „Aber hier ist es etwas anderes“, sagt sie. „Das ist nicht nur Arbeit, das ist wie eine Mission.“ Es sei erstaunlich, wie schnell aus den Dockers gute Barmänner geworden seien. Pünktlich zur WM wurde der neue Außenbereich mit Tischen und Sonnenschirmen eröffnet. Inzwischen ist das „Casa“ so bekannt, dass es in den renommierten englischen Führer „Best Pub Guide“ aufgenommen worden ist. „Das Casa bleibt ein politischer Ort“, erklärt Richardson, „und er ist offen für alle.“ Hier trifft sich das Liverpooler Sozialforum und die Solidaritätsgruppe für Palästina. Aber auch die jüdische Gemeinde hat in den Räumen schon gefeiert. „In England haben wir tausend verschiedene kommunistische Grüppchen“, ergänzt Tony Nelson, „die sind untereinander verfeindet. Aber zu uns kommen sie alle.“ Ein paar Mal hätten solche Gruppen versucht, in seinem Projekt Einfluss zu bekommen. „Du weißt ja, wie diese Leute sind. Aber wir haben ihnen klar gemacht, dass dies vor allem der Ort der Dockers ist.“

An diesem Sommerabend spielt die Liverpooler Band Sash im „Casa“. Gerade erst hat sie das Label des Oasis-Sängers Liam Gallagher unter Vertrag genommen. Bevor die Techniker anfangen können aufzubauen, müssen sie eine Betriebsgruppe der Unison aus einer Ecke des Konzertsaals vertreiben. Auch die Mitglieder der größten britischen Einzelgewerkschaft treffen sich bei den Dockers. Sie könnten sich auch im Gewerkschaftshaus versammeln, aber hier macht es ihnen sichtbar mehr Spaß. Schließlich dröhnt Brit-Rock aus den Boxen und ein paar hundert junge Leute fangen an zu hüpfen. Zwischen ihnen stehen Tony Nelson und zwei seiner Kollegen in ihren Lederjacken und freuen sich. Nur Jacqueline Richardson bleibt an diesem Abend nüchtern. Wenn sie es nicht wäre, hätte es womöglich heute für halb Liverpool Freibier gegeben.

Das „Casa“ bleibt ein politischer Ort und ist offen für alle, nicht nur für Dockers

„In Liverpool wurde immer viel getrunken“, sagt Anthony Thompson, „schon allein weil die Hälfte von uns aus Irland stammt.“ Thompson ist einer der beiden Sozialarbeiter im „Casa“. Auch sein Großvater ist einst aus Irland gekommen. Man erkennt es deutlich an den feuerroten Haaren Thompsons. Alkoholismus sei ein großes Problem unter seinen Kunden, gibt er zu. Aber solange sie gemeinsam trinken, hätten sie wenigstens ein Auge aufeinander, schiebt er milde lächelnd hinterher. Im „Casa“ wird den Gefahren des Alkohols mit einer Art offensiver Verteidigung begegnet. „Das größte Problem der Leute hier ist die Verschuldung“, erklärt Thompson. Nach dem Zusammenbruch der Industrie ist der Nordwesten Englands heute der ärmste Teil des Landes. Nirgendwo sind so viele Menschen arbeitslos wie in Liverpool. Die entlassenen Dockers haben kaum Aussicht auf neue Jobs. Inzwischen können die ersten wenigstens Rente beantragen. „Wir helfen den Leuten bei den Behördenproblemen, damit sie ihre Ansprüche durchsetzen können“, so der Sozialarbeiter. Sein Bruder war früher einmal auch Hafenarbeiter. Thompson hat früher für die Stadt gearbeitet. „Aber hier habe ich eher das Gefühl, auf der Seite der Manschen zu kämpfen. Seit 2004 haben wir für die Leute rund eine Million Pfund mehr bei den Behörden rausgeschlagen“, erzählt er stolz.

Während des Streiks wurden die Dockers auf der ganzen Welt unterstützt. Sogar in Sydney und in New York blockierten Hafenarbeiter aus Solidarität Liverpooler Schiffe. Damals entstand der internationale Hafenarbeiterverband IDC, dessen Kampagne vor einem Jahr ein Liberalisierungspaket der Europäischen Union stoppte. Die ersten handgemalten Banner der IDC hängen immer noch im Treppenhaus des „Casa“. Genauso wie ein Foto von Bobby Fowler, dem Mittelfeldregisseur des FC Liverpool. Es zeigt ihn, wie er nach einem Tor sein T-Shirt mit einer Parole der Dockers präsentiert. Der Verband ahndete das mit einer Geldstrafe. Immerhin haben Tony Nelson und seine Kollegen das Ende der konservativen Regierung beschleunigt. Auf dem Höhepunkt ihres Streiks kam 1997 Tony Blairs Labour Party an die Macht. „Aber sie hat ihre Versprechen nicht eingehalten“, resigniert Nelson: „Thatchers Anti-Gewerkschafts-Gesetze sind geblieben.“ Zynisch fügt er hinzu: „Dafür sitzt jetzt der ehemalige Vorsitzende unserer Gewerkschaft, Bill Morris, als Lord im Oberhaus.“

Viele der Dockers haben dagegen einen hohen Preis bezahlt. Eine Tafel im „Casa“ erinnert an fünf Arbeiter, die während des Streiks krank wurden und starben. Auch Tony Nelsons Ehe zerbrach während des zweieinhalbjährigen Ausstands, in dem seine Familie ohne Einkommen war. Inzwischen ist der dreifache Vater geschieden, seine neue Partnerin arbeitet ebenfalls im Pub. Die Postadresse von „The Casa“ ist 29 Hope Street: Hausnummer 29 in der Hoffnungsstraße.