Flasche leer, Tasche voll
Love Parade oder CDS - bei den großen Partys der Stadt schlagen die Flaschen- und Büchsensammler zu. Die Profis unter ihnen bessern sich ihre Sozialhilfe so mit einem dreistelligen Monatsverdienst auf
Von Torsten Gellner

In der großen blauen Tasche mit den vier gelben Buchstaben sind keine Bokö-Stuhlkissen und keine lustigen Skina-Slända-Dekorations-Libellen. Nein, der schlaksige rothaarige Mann, zu dem die pralle Tasche gehört, schleppt nicht seine Ikea-Einkäufe über die Love Parade - er ist hier, um Geld zu verdienen. Aus seinem Beutel riecht es nach schalem Bier. „Keine Zeit“, winkt er ab, als man ihn anspricht. Sein jugendlicher Partner, vielleicht sein Sohn, zieht die Baseballkappe tiefer ins Gesicht, er schämt sich. Sein Vielleicht-Vater vielleicht auch und mag daher nicht darüber reden - darüber, dass er von dem lebt, was andere wegschmeißen, darüber, dass er Flaschensammler ist.

Ob auf Großveranstaltungen wie der Love Parade oder täglich im Kiez: Flaschensammler gehören zum Stadtbild wie Menschen, die tun, als könnten sie Akkordeon spielen und dafür Geld verlangen. Die Hemmung, den geldwerten Müll aufzulesen, scheint in den vergangenen Jahren gesunken zu sein. Früher waren es vor allem Obdachlose, jetzt bücken sich Senioren, um ihre Rente, Kinder, um ihr Taschengeld, Arbeitslose, um ihre Stütze aufzubessern.

Ja, die Konkurrenz sei größer geworden, bestätigt eine grauhaarige Frau Mitte vierzig, die kein Problem damit hat, über ihren Nebenverdienst mit dem niedrigen Sozialprestige zu reden. Ihren Namen will sie trotzdem nicht in der Zeitung lesen, nennen wir sie also Martina.

Martina ist heute extra aus Marzahn zum großen Stern gekommen, um auf der Love Parade Beute zu machen. Ein lukratives Geschäft: Die Hitze und das ekstatische Rumgehopse machen durstig, aber die meisten der halbnackten Hopser sind zu träge, um ihre leeren Flaschen länger als nötig bei sich zu behalten. Daher überall die Menschen mit den großen Tüten und Taschen, die zwischen den Tänzern nach Leergut suchen.

Zwei Ereignisse, vermutet Martina aus Marzahn, hätten zu dem Flaschensammelboom geführt: „Dosenpfand und Hartz IV.“ 25 Cent bekommt man für eine pflichtbepfandete Einwegpulle. Da lohnt sich das Bücken schon, vor allem, weil die Arbeitsagentur von dem Nebenverdienst nichts mitkriegt. Der Erlös taucht auf keinem Kontoauszug auf - das schwarz verdiente Geld wird allerdings nicht, wie es Steuerflüchtlinge zu tun pflegen, irgendwo außer Landes gebunkert, sondern fließt direkt wieder in den Wirtschaftskreislauf, weil es die Betroffenen sofort wieder ausgeben. Martina, auch sie bezieht Arbeitslosengeld, hat sich zum Gespräch etwas abseits postiert. „In dem Trubel versteht man ja sein eigenes Wort nicht“, sagt sie und zündet sich eine Zigarette an. „Ich hab mir ja auch mal eine Pause verdient.“ Seit knapp zwei Stunden ist sie nun hier zwischen den Technofans unterwegs und ihre Transportmittel - ein Trolley, ein Rucksack und ein Müllbeutel - sind bereits randvoll. „Heute nur Dosen und Plaste“, erzählt sie. „Das bringt mehr. Für Glas gibts ja nur 8 Cent. Was heißt nur, normalerweise bücke ich mich auch dafür, aber ich muss mit dem Krempel gleich wieder zurück nach Marzahn.“ Die leichte Plastekollektion ist besser für ihre kaputten Knie.

Warum kutschiert sie den Kram durch die halbe Stadt? „Weil ich in Marzahn meine Leute hab“, antwortet sie. Ihre Leute, das sind Getränkehändler, die keinen Zirkus machen, wenn jemand mal eben 100 Flaschen auf den Tresen hievt. Bevor sie den Müll zu Geld macht, wird er noch in der Küche zwischengelagert und sortiert, weil nicht jeder Händler alles nimmt. „Sie sollten mal meine Küche sehen, sieht aus wie ein Schlachtfeld“, sagt sie und lacht. Sie lacht überhaupt viel. Von Scham keine Spur.

Martina ist Profi. Seit acht Jahren, seit sie durch einen Unfall ihre Arbeit verlor, streift sie abends durch ihren Kiez, fährt am Wochenende zu den Fußballspielen oder klappert die einträglichen Events ab. „Als ich noch gearbeitet hab“, erzählt sie, „hab ich schon gewusst: Wenn ich meinen Job verlier, werd ich Flaschensammler.“ Martina war früher im Gartenbau tätig. Sie hat kein Problem damit, sich zu bücken und den Umgang mit der Zange ist sie auch gewöhnt. Die Zange zeichnet nämlich den echten Profi aus: Damit lassen sich auch Container und engschlundige Mülleimer überlisten. Um die 100 Euro, schätzt sie, macht sie im Monat mit der Sammelei. Das scheint fast untertrieben. Allein ihre Love-Parade-Ausbeute hatte sie zuvor auf 25 Euro veranschlagt.

Auch jenseits der umzäunten Technozone trifft man auf die Leergutsammler. An einer Bushaltestelle am Kanzleramt steht ein kleiner Mann mit einem großen Einkaufswagen, aus dem es grün und braun schimmert. Wenn er jetzt noch mehr Bierflaschen findet, sind Stapelkünste gefordert. „Da sagt doch am Bahnhof so eine Obdachlose zu mir: ,Kannste vergessen, hier findste keine Flaschen‘, und was ist das?“ Der Mann deutet stolz auf seine Kollektion. „Alles auf dem kurzen Stück vom Hauptbahnhof bis hier gesammelt.“ 20, 25 Euro sei das wohl wert. Auch er lebt von Hartz IV und will anonym bleiben.

Wo er die Flaschen jetzt hinbringen will? Zu einem Supermarkt im Bahnhof Friedrichstraße. „Die machen da keine Probleme“, ist er sich sicher.

Er irrt sich. Eine Stunde später in besagtem Supermarkt, treten sich die Love-Parade-Touristen gegenseitig auf die mit neonfarbenem Kunstfell umpuschelten Füße. In der Schlange an der Kasse steht der kleine Mann mit dem großen Einkaufswagen. Heute hat er Pech gehabt, sein Wagen ist immer noch voll. Er sei vom Personal bei der Flaschenannahme wieder weggeschickt worden, „zu viel los heute“. Jetzt weiß er nicht so recht, wohin mit seinem Beutegefährt. „Muss mir halt was überlegen“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Die Niederlage hindert ihn nicht daran, heute wieder loszuziehen. Diesmal wird er seinen Wagen durch Schöneberg schieben. Den Christopher Street Day kann sich ein echter Geschäftsmann doch nicht entgehen lassen.