Ich bau mir eine Stadt

Zamość heißt ein Ort in der polnischen Provinz, der im 16. Jahrhundert als ideale Stadt im Stil der italienischen Renaissance geplant wurde. In diese Stadt reist nun die internationale Kunstszene und verwurstet die Utopien von gestern. Ein Bericht

Es scheint, als ballen sich in Zamość die Utopien. Haufenweise liegen sie übereinander

von BIRGIT RIEGER

Ewa, die junge Stadtführerin, streckt ihre Arme in Richtung der bunten Fassaden und Bogengänge, die den quadratischen Rynek Wielki, den großen Markt, umgeben. „Zamość ist ein wahrgewordener Traum“, sagt sie. Der Mann, der diesen Traum verwirklichte, sitzt nur wenige Häuserblocks entfernt auf einem Bronzepferd: Kanzler Jan Zamoyski. 1580 holte er den venezianischen Baumeister Bernardo Morando ins Land und stampfte mit dessen Hilfe eine ideale Stadt im Stil der italienischen Renaissance aus den polnischen Äckern. Ein Kunstwerk, wie es kaum irgendwo in ähnlicher Perfektion realisiert wurde.

Heute ist Zamość, auch das „Padua des Nordens“ genannt, in Vergessenheit geraten. Dabei ist die Altstadt seit 1992 Weltkulturerbe. Rosa Luxemburg ist hier geboren. Und Papst Johannes Paul II. war da. Doch ohne die polnischen Schulklassen und die verliebten Paare, die im Sommer scharenweise durch die rechtwinkligen Straßen pilgern, wäre die Altstadt deprimierend leer.

In diese Gegend nahe der ukrainischen Grenze locken Sabrina van der Ley, künstlerische Leiterin der Berliner Kunstmesse Art Forum, und der ehemalige Berliner Galerist Markus Richter in diesem Sommer die internationale Kunstszene. Damit erfüllen sie sich ihre eigene kleine Utopie: den Traum von der Kunst im Kaff. Die Idee hatte die Warschauer Ausstellungsmacherin Anda Rottenberg, die Zamość bereits im Jahr 2000 als Schauplatz für die Manifesta vorschlug.

200 Gäste aus aller Herren Länder reisten zur Eröffnungsfeier von „Ideal City – Invisible Cities“ in die polnische Provinz und prosteten sich in der ehemaligen Befestigungsanlage zu. Insgesamt hat das Berliner Kuratorenpaar 41 Künstler mit Rang und Namen gewonnen, von Miroslaw Balka bis Pedro Cabrita Reis, von Francis Alys bis Teresa Murak. An mehreren Ausstellungsorten dreht sich alles um die ideale Stadt, die unsichtbare Stadt und das Raster. Auch eine Schar von internationalen Künstlern aus Berlin ist dabei – und beißt sich an den alten Utopien fast die Zähne aus. Idealstädte, egal ob in der Renaissance oder in der Moderne gedacht, sind Traum und Albtraum zugleich. Diesen Abgrund kann man in Zamość deutlich spüren.

Auf dem Salzmarkt der Stadt, wo sonst Autos parken, sägt der Berliner Künstler Kai Schiemenz mit vier polnischen Assistenten an seiner Idee: ein mehrere Meter hoher, transparenter Holzturm mit Wendeltreppe und Arena. „Ideale Stadt – das ist für mich ein extrem fremder Begriff“, sagt Schiemenz und klopft sich den Staub von der Hose. Was soll man anfangen mit den hysterischen Vorstellungen von Zukunft, die längst überholt sind? Mit dem Drang zum Absoluten? Am interessantesten daran ist das Scheitern. Und das fand der Künstler in Reinform bei den russischen Konstruktivisten. „Andy Warhols Watchtower für die Vierte Internationale“ heißt sein Turm. Ein zeitgenössisches Pendant zu Tatlins nie gebautem Monument für die Dritte Internationale.

Im Historischen Museum von Zamość, wo es vor Jan-Zamoyski-Gemälden nur so wimmelt, quält sich indes der gebürtige Potsdamer Tilman Wendland mit seiner Lieblingspappe herum: holländische Pappe, leicht und dünn. Die Kuratoren haben den Künstler mit Idealstadtmaterial gefüttert: Bildbände über Le Corbusiers Chandigar, Oskar Niemeyers Brasilia, Oskar Hansens Bauten in Lublin. Jemand musste die Formensprache dieser modernen Meister in Zamość thematisieren. Der Künstler legt den Museumsraum mit weißer Pappe aus, stellt die Fenster zu. Das ist nicht mehr Zamość, das ist ein Blick in Wendlands Gehirn. Er lässt seine Pappe gewähren, nutzt ihre Spannung, baut eine zwei Meter hohe Skulptur, die aussieht wie ein Regal. Darin kreuzen sich die Formen. Eine Hartfaserplatte biegt sich auf dem Boden, imitiert Niemeyers Schwung. Wendlands Formengedächtnis kümmert sich nicht um Verständnis, nicht um Zamość.

Genau damit quälen sich die 14 ortsspezifischen Arbeiten draußen in der Stadt herum. Tabula rasa durch Kunst? In einer Stadt, deren Bewohner seit 400 Jahren hinnehmen müssen, was man ihnen vor die Nase stellt? Lieber nicht. Stattdessen ein freundliches Abklopfen der Gegebenheiten.

Franka Hörnschemeyer aus Berlin-Kreuzberg errichtet ein mannshohes Labyrinth in Form des orthogonalen Grundrisses von Zamość. Daniela Brahm erklärt den Rasenplatz vor der Franziskanerkirche fiktiv zu Bauland. Ein Bauschild zeigt auf einer Seite einen Wohnwagen, auf der anderen ein modernistisches Betonhochhaus. „Participate“ steht da in silbernen Lettern. Ein Fingerzeig auf die überholten Utopien der Moderne. Unwillkürlich fragt man sich: Wie will ich eigentlich leben?

Die Realität für zahlreiche Familien in Zamość heißt Hinterhof. Soziale Brennpunkte mit morbidem Charme. In einem hat der niederländische Bildhauer Lucas Lenglet, Senatsstipendiat mit Wohnsitz in Berlin, ein Kolumbarium errichtet. Eher als Wohnmaschine für Tauben gedacht denn als Urnenplatz. Die Bewohner haben den runden, fünfstöckigen Ziegelturm schon ins Herz geschlossen. Den Künstler auch. Zum Richtfest gibt es Wodka und Blumen. Ein polnischer Brauch. „So habe ich mir das vorgestellt“, freut sich Kurator Markus Richter, als der Künstler, die drei Jungs aus der Baufirma und ein paar Nachbarn zunehmend vergnügt unter Bäumen stehen. Netzwerke sind wichtig. Man will nicht wie ein Ufo in der Stadt landen. Was dann irgendwie doch passiert.

Dass sich das reale Leben in Zamość gar nicht so einfach greifen lässt, spürte auch der schottische Künstler Colin Ardley, der in Dresden zu Hause ist. Einfach seine Handschrift in die Stadt einbringen, das wollte er nicht. Da kam die Idee wie ein Blitz: Dem Künstler fiel auf, dass die Eckhäuser auf dem Hauptmarkt von keilförmigen Pfeilern gestützt werden, die dem Diktat des rechten Winkels nicht gehorchen. Ardley experimentierte im Atelier mit den gefundenen Formen und hielt plötzlich eine Pyramide in Händen. Nun steht sie auf dem Marktplatz, sieben Meter hoch, mit Holz verkleidet.

Ewa, die Stadtführerin, führt ihre Besucher immer auch durch die Rotunde, ein ringförmiges Ziegelgebäude vor den Toren der Stadt. „Gefangenendurchgangslager Sicherheitspolizei“, steht am hölzernen Eingangstor. Die ehemalige Artilleriestellung diente der SS während des Zweiten Weltkrieges als Untersuchungsgefängnis. Zamość war Ausgangspunkt für den „Generalplan Ost“ der Nazis. In 20 feuchten Zellen wird mit Fotos und Blumen der ermordeten Juden, polnischen Partisanen und russischen Gefangenen gedacht. Tausende kamen hier ums Leben. Oder wurden in die Vernichtungslager der Umgebung Sobibór, Majdanek und Belzec gebracht.

Keine Betroffenheitskunst, lautet jedoch der Tenor bei den Künstlern, die die traumatische Geschichte in ihren Arbeiten ausblenden. Einzig Miroslaw Balka, einer der bekanntesten polnischen Künstler, hat den Mut. Er entdeckte die formalen Prinzipien der idealen Stadt im Vernichtungslager Auschwitz wieder. Balka errichtet auf einem Rasenstück am Neuen Lublin Tor, einem ehemaligen Zugang zur Stadt, eine mit Mörtel bedeckte Holzskulptur, die an eine Barackenwand erinnert. Sobald sich ein Mensch der Wand nähert, erklingt ein deutscher Marsch.

Es scheint, in Zamość ballen sich die Utopien und liegen haufenweise übereinander. Mit „Ideal City – Invisible Cities“ beweist die Stadt Mut und den Willen, in Europa wieder Anschluss zu finden. 50.000 Euro hat die Stadtkasse zu dieser Ausstellung beigesteuert, die sich Touristen und Einheimischen in ihrer komplexen Intention womöglich gar nicht erschließt. Nachts fliegen die Lampen aus Ardleys Pyramide, werden Ziegel im Kolumbarium zertrümmert. Sogar eine Unterschriftenliste ist aufgetaucht, gegen die teure Kunst in der schönen Stadt. Im September wird die Schau in abgewandelter Form nach Potsdam wandern. Rechtzeitig zum Art Forum. Im Gegensatz zu Zamość ist in Potsdam die Finanzierung allerdings noch nicht gesichert.

bis 22. August in Zamość; ab 9. September bis 29. Oktoberin Potsdam; www.idealcity-invisiblecities.net