Die Angst der Mutter um ihr Baby

FLUCHT Immer mehr Syrer suchen Schutz in den Lagern des Libanon. Die Hilfsgelder reichen aber nicht. Besonders gefährdet: die Kinder

AUS BEIRUT RAPHAEL THELEN

Vor drei Tagen ist sie aus Damaskus hier angekommen. Monatelang hatte ihre Familie unter Beschuss ausgehalten. Als das Haus ihrer Nachbarn zerstört wurde, flohen sie. Jetzt sitzt sie weinend vor einer Gruppe ausländischer Journalisten in einem Flüchtlingslager im Libanon, im Arm hält sie ihr 24 Stunden altes Baby.

Es schreit vor Hunger. „Ich kann keine Milch geben“, sagt sie. Sie sei zu traumatisiert. Stattdessen füttere sie das Baby mit Zuckerwasser. An der nahegelegenen Ausfallstraße steht eine Apotheke. Die Journalisten kehren in das Zelt zurück und geben der Mutter einige Pakete Babymilch, bevor sie wegfahren.

„Das ist genau das Fehlverhalten, das wir versuchen zu bekämpfen“, sagt Linda Shaker-Berbari, als sie die Geschichte hört. „Falls Mütter denken, dass sie nicht stillen können, dann ist es unsere Aufgabe sie vom Gegenteil zu überzeugen.“ Shaker-Berbari arbeitet für die Hilfsorganisation International Orthodox Christian Charities (IOCC), die in den vergangenen Monaten die Unterernährung bei syrischen Flüchtlingskindern im Libanon untersucht hat.

Obwohl die Studie nur einen kleinen Teil der schätzungsweise 200.000 Flüchtlingskinder unter vier Jahren umfasste, sind die Ergebnisse eindeutig: „Mehr als 100 Kinder mussten wegen Unterernährung umgehend behandelt werden“, sagt Shaker-Berbari. „Doch die Gesamtzahl dürfte weit höher sein.“ Insgesamt dürften mittlerweile bis zu einer Million Syrer in den Libanon geflohen sein. Viele haben monatelang Straßenkämpfe miterlebt oder in ihren Häusern unter Artilleriebeschuss und Luftangriffen ausgeharrt, bevor sie überstürzt ins Nachbarland gekommen sind.

27 Dollar pro Monat

Hier harren Hunderttausende in improvisierten Zeltstädten aus. Ohne Arbeit sind viele auf finanzielle Hilfe angewiesen. Angesichts fehlender Gelder mussten internationale Hilfsorganisationen in den vergangenen Monaten Geld- und Lebensmittelzuschüsse kürzen. „Die Bedürfnisse sind riesig und wachsen mit jedem Tag, den der Konflikt in Syrien andauert“, sagt Laure Chadraoui vom World Food Program (WFP).

Das WFP unterstützt derzeit über 600.000 Menschen mit Lebensmittelgutscheinen. Jede Person erhält 27 Dollar pro Monat. Trotzdem mussten sich zwei Drittel der Menschen in den vergangenen Monaten Geld leihen, um Essen zu kaufen.

60 Prozent nehmen nicht ausreichend Vitamin-A-haltige Lebensmittel wie Eier oder Milch zu sich. 40 Prozent bekommen nicht genug eisenhaltige Lebensmitteln wie Fisch oder Fleisch. Auf Dauer führt dies zu Mangelerscheinung, doch die Gefahr für Kleinkinder hat auch andere Gründe. „Die Unterernährung bei Kleinkindern ist vor allem durch schlechte sanitäre Verhältnisse und ungenügendes Stillen seitens der Mütter bedingt“, sagt Shaker-Berbari. „Es herrscht viel Verunsicherung unter Müttern. Sie glauben, dass sie nicht stillen können, weil sie zu schlecht essen, oder weil sie sich zu traumatisiert fühlen.“ Auch die Enge in den Zelten ist ein Problem. Es fehlt die Privatsphäre.

Stillen ist laut internationalen Studien für Kinder in solchen Situationen jedoch überlebenswichtig. Kinder, die nicht gestillt werden, sind infektionsanfälliger. Dabei sind die hygienischen Bedingungen oft schlecht: Die Winterstürme im Libanon lassen die Toiletten in den Flüchtlingslagern überlaufen. Fäkalien fließen in die Zelte. Zugleich fehlt das Geld für eine medizinische Grundversorgung. Die Folge sind Durchfallerkrankungen. Die Kinder verlieren mehr Flüssigkeit und Nahrung, als sie zu sich nehmen können.

Ein Teufelskreis: Die schlechte Ernährung schwächt das Immunsystem und macht die Kinder anfälliger für Krankheiten. Das schwächt das Hungergefühl des Babys zusätzlich, sein Stoffwechsel bricht zusammen, das Immunsystem versagt – indem es zum Beispiel nicht mehr auf die lebensrettende Erhöhung der Körpertemperatur reagiert. Das Kind stirbt.

Um den versagenden Stoffwechsel wieder in Gang zu bringen, bedarf es ärztlicher Aufsicht und der genauen Einhaltung bestimmter Schritte. Zu viel oder die falsche Nahrung kann ebenfalls tödlich sein. Viele Ärzte kennen sich mit der Behandlung von Unterernährung aber nicht aus. Die Hilfsorganisationen arbeiten an dem Problem, doch der Fortschritt ist langsam.

Gut gemeint, aber …

Das IOCC setzt deshalb auf Prävention: „Wir versuchen den Müttern klarzumachen, dass sie auch unter schwierigen Umständen stillen können“, sagt Shaker-Berbari. „Die Mütter müssen es nur versuchen. Die Berührung des Nippels setzt die Milchproduktion und -abgabe in Gang. Egal unter welchen Umständen.“ Ersatzpräparaten wie Babymilch fehlen viele Eigenschaften, die für die Ernährung des Kindes wichtig sind.

Der Hilfsversuch der Journalisten war gut gemeint, richtete jedoch wohlmöglich mehr Schaden an, als dass er half. „Die Zeit bis zum fünften Lebensjahr ist kritisch für die Entwicklung des Kindes“, sagt Shaker-Berbari. „Wenn sich die Situation nicht verbessert, müssen wir neben den Todesfällen langfristig auch mit Unterentwicklung und Wachstumsproblemen bei den Kindern rechnen.“