Die Stille nach dem Schuss

In der 119. Minute schweigt die Million auf der Fanmeile. Nach dem 1:0 der Italiener ist erstmals der TV-Kommentar zu verstehen. Selbst spanische Fans können das Aus der Deutschen nicht fassen

Von Torsten Gellner

Jetzt bloß schnell weg hier. Die Stände mit Bier links, die mit Würstchen rechts liegen lassen, vielleicht noch in ein paar Plastikbecher kicken, auch wenn sie keinen Widerstand leisten und so den Frust kaum verringern können. Vorbei an den verwaisten T-Shirt-Ständen, am Riesenrad, auf dem jetzt keiner mehr seine Runden drehen will. Was gäbe es von da oben aus auch zu sehen? Den Trauerzug der Millionen, die hier nichts mehr hält, die Köpfe und Fahnen hängen lassen und eilig zu den Ausgängen drängen, als könne man die soeben erlittene Niederlage damit abstreifen, zurücklassen wie seinen Plastikmüll auf der Straße des 17. Juni oder seine Ausscheidungen im Tiergarten.

Es ist Dienstagnacht, kurz vor zwölf. Die Halbfinalbegegnung Deutschland gegen Italien ist erst seit einer Viertelstunde beendet und schon hat die Fanmeile gut ein Drittel ihrer Besucher wieder ausgespuckt. Und das alles nur wegen dieser verflixte 119. Minute.

Sie kommt über die Besucher wie ein Wolkenbruch, hat aber keine erfrischende, sondern eine lähmende Wirkung. Fangesänge erlöschen schlagartig, Tröten fallen aus Gesichtern, Trommler kommen aus dem Takt, verstummen schließlich ganz. Der Geräuschpegel sackt so abrupt ab wie der Blutdruck der fassungslosen Fans. Zum ersten Mal an diesem Abend kann man sogar die Stimme des Fernsehkommentators verstehen. Hände wandern kollektiv vor schwarz-rot-goldene Mienen, Zigaretten werden hastig mit zitternden Fingern angezündet, Köpfe drehen sich wie konzertiert zueinander und gleich wieder zurück zur Leinwand. „Hast du das auch gesehen, ist das jetzt wahr?“, fragen die Blicke. Ja, der Blick zurück auf die Fernsehbilder, wo gerade eine Zeitlupe in quälender Ruhe seziert, wie Grosso den Ball an Lehmann vorbei ins deutsche Netz schlenzt, liefert die Bestätigung.

„Ihr schafft das schon …“

Der ebenso kleinen wie korpulenten Frau mit der Berliner Schnauze, die kurz zuvor noch prophezeit hat, die „Spaghettis“ würden gleich aus dem Turnier fliegen, hat es die krächzende Stimme verschlagen. Die Gruppe junger Spanier, die extra von den Kanaren eingeflogen sind, um ein wenig „World-Cup-Feeling“ zu erleben, schaut ungläubig und missmutig. Ricardo aus Las Palmas guckt besonders bedröppelt aus der Wäsche. Er hat soeben 300 Euro verloren, die er auf Deutschlands WM-Triumph gesetzt hat. „Ich hätte nie gedacht, dass Deutschland im eigenen Land geschlagen werden könnte“, sagt er in gebrochenem Englisch. Selbst die schwarz-rot-goldenen Fähnchen, die er sich auf seine kräftigen Wangen gemalt hat, sehen auf einmal traurig aus.

Doch dann geschieht etwas, was ganz nach Jürgen Klinsmanns Geschmack gewesen sein dürfte. Die Philosophie des großen blonden Nationalmotivators hat auch auf der Fanmeile gefruchtet. Denn die Lähmung und Fassungslosigkeit hält die Anhänger nur wenige Sekunden unter Beschlag. Dann setzen sie wieder ein, die Schlachtrufe und Anfeuerungen. Auch gegen Argentinien lag man schließlich zurück, und wie viele Tore sind bei dieser WM in der letzten Minute gefallen! Da geht noch was. Da muss noch was gehen, der Traum kann doch hier nicht ausgeträumt sein.

Auch die korpulente Kodderschnauze rafft sich noch mal auf, nimmt einen kräftigen Schluck von ihrem abgestandenen Bier und lässt ein paar kulinarische Abfälligkeiten vom Stapel. Selbst als Sekunden später das 2:0 fällt und keiner mehr ernsthaft an einen Ausgleich glauben kann, lassen sich die Johler nicht aus dem Konzept bringen. Erst der Schlusspfiff holt sie in die grausame Realität zurück. Das war’s dann wohl, Zeit zu gehen.

Die Stimmung war schon zuvor etwas eigenartig gewesen. Sie passte nicht so recht zu den Fernsehbildern aus Dortmund. Die zweite Hälfte der Verlängerung war eine einzige deutsche Jubelarie. Die Fanmeilenbesucher feierten frenetisch jede Parade von Jens Lehmann so, als hätte Podolski gerade das 3:0 per Hackentrick perfekt gemacht. Selbst die Einwechslung von David Odonkor war wie der Einzug ins Finale gefeiert worden. Einzelne Fangruppen versuchten sich gegenseitig im Skandieren von Schlachtrufen zu überbieten – deutsch-deutsche Fangruppen wohlgemerkt.

Denn die Konkurrenz aus Italien war fast nur medial, auf den Leinwänden präsent. Nur wenige Tifosi hatten sich auf die Fanmeile getraut, die einem schwarz-rot-goldenen Hexenkessel glich. Und so hielten sich Anfeindungen und chauvinistische Pöbeleien auch in Grenzen. „Ihr seid Bäcker, kleine Pizzabäcker, ihr schlaft unter Brücken oder in der Bahnhofsmission“, hieß es dann und wann zur Melodie einer Bonnie-Tyler-Schmonzette.

„… ihr werdet Dritter“

Beim großen, stillen Abzug gibt es hier und da noch ein paar Nicklichkeiten zwischen den Rivalen, aber auch versöhnliche Szenen: Italienische Fans leisten freundschaftliche Hilfe bei der deutschen Trauerarbeit. Ein Tifoso mit grün-weiß-rotem Hüftschmuck hält einen deutschen Flaggenträger zärtlich im Arm. „Ihr schafft das schon“, sagt er. „Ihr werdet Dritter.“ Den Deutschen muntert das tatsächlich auf. Schon lässt er seine Fahne wieder über dem Kopf kreisen.