Die Stars von der Rütli-Schule

Musikunterricht nach Ghettoart: Eine Woche lang bringen Künstler und Musiker den Schülern der Rütli-Oberschule Breakdance, Rap, Gesang und Scratchen bei. Beim Auftritt der dänischen Hiphop-Band Outlandish wird so manches Talent entdeckt

Von FELIX LEE

Eigentlich ist Khadiye gar nicht Teil des Bühnenprogramms. Doch gerade hat sie der Sänger der dänischen Hiphop-Band Outlandish auf die Bühne gebeten. Die 14-jährige Rütli-Schülerin ziert sich. Mit zittrigen Händen hält sie das Mikrofon, dann schließt sie die Augen. Nach mehreren Anläufen erhebt sie schließlich ihre alles durchdringende Stimme. Das Publikum – darunter viele Mitschüler und Mitschülerinnen – tobt.

Khadiye war erst kurz zuvor „entdeckt“ worden. Die drei Mitglieder von Outlandish, die vor vier Jahren mit dem Remake „Aisha“ einen weltweiten Hit landeten, hatten die 14-Jährige vor ihrer Show in einem Garten bei der Rütli-Schule singen hören. „Ich habe sofort Schmerz und Leidenschaft in dieser Stimme gespürt“, erzählt Sänger Isam Bachiri.

Wieder einmal hat es die Neuköllner Hauptschule in die Schlagzeilen geschafft. Doch diesmal nicht mit vermeintlichen Gewaltexzessen der Schüler, sondern mit positiven Schlagzeilen: In der Musikszene habe sich längst herumgesprochen, dass im berüchtigten Neukölln unerkannte Talente schlummern, erzählt Anke Schaubrenner. „School-Tour“ heißt das Projekt, für das Schaubrenner arbeitet. Es ist eine Initiative aus Hamburg, die von der Deutschen Phono-Akademie in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung getragen wird. Ein Team aus neun Musikern, Pädagogen, Tänzern und DJs sucht besonders problembehaftete Schulen auf und organisiert für sie eine Projektwoche. Unterstützt werden sie von prominenten Bands. In dieser Woche ist es die Rütli-Schule in Neukölln.

„Musik und Kreativität wollen wir an diesen Schulen vermitteln“, erzählt Schaubrenner. „Wir wissen aus Hamburg, dass besonders Schulen von sozial problematischen Regionen sich keinen Musikunterricht leisten können.“ Dabei sei die positive Wirkung von Musik als Mittel der Gewaltprävention und zur Integration unter Bildungsexperten schon lange unumstritten.

Von der Rütli-Schule hat der Leiter des School-Tour-Projekts, Jürgen Stark, erst durch die Medien erfahren. „Wir haben sofort angerufen“, erzählt er. Denn er habe gewusst, welchen Stigmatisierungen die Schüler nun ausgesetzt seien. Die Schulleitung habe sofort eingewilligt.

62 Schüler, vor allem der 7. und 8. Klassen, haben die neun Künstler fünf Tage lang nun unter ihren Fittichen. Sieben Workshops bieten sie an: Breakdance, Gesang, Rap, in einem Workshop lernen die Schüler Platten scratchen, es gibt ein Filmteam, Schaubrenner selbst probt mit ihren Schülerinnen die Moderation. „Sie sollen zu keiner Casting-Show, und wir wollen auch keine Superstars aus ihnen machen“, sagt Schaubrenner. „Unser Konzept ist es, sie in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken.“ Zumindest einmal in ihrem bisher rauen Alltag sollen sie auf der Bühne stehen und das Gefühl spüren: „Wir können was.“ Am Samstag erscheinen all ihre Songs auf dem „Rütli-Sampler“.

Ayman ist 14. Hiphop sei seine Leidenschaft, erzählt der Siebtklässler. Er „trainiert“ häufig im Jugendclub Manege gegenüber der Rütli-Schule, erzählt er. Aber vor einem größeren Publikum sei er noch nicht aufgetreten. Seinem mitreißenden Breakdance-Debüt vor den Augen der Sänger von Outlandish merkt man es nicht an.

Es gibt noch mehr Profi-Tänzer an der Schule. Den 14-jährigen Tony zum Beispiel. Oder Freddie. Zum Schuljahresende verlässt der 16-Jährige die Schule. Beim Battle-Rap auf der Bühne stehen die beiden ihren professionellen Vorbildern in nichts nach. „Das sind irre Talente“, bestätigt Musiklehrerin Birgit Braun. Dabei hätten die meisten von ihnen noch nie ein Instrument gespielt. Sie ist die einzige ausgebildete Musiklehrerin an der Rütli-Schule. Für mehr Fachpersonal stellt der Bildungssenator keine Mittel zur Verfügung.

Natürlich habe der Hilferuf der inzwischen in Ruhestand getretenen Rektorin die Schule in Misskredit gebracht. „Wir sind keine Monsterschule und wir Lehrer kein desillusionierter Haufen“, sagt Braun. „Aber wir wären sonst einfach im Stich gelassen worden.“ Braun ist begeistert von der School-Tour. „Die bringen Technik mit, die wir hier nie haben werden.“

Und dennoch ist ihr Hiphop nicht fremd. Auf dem Lehrplan der 9. Klasse steht Beethovens Neunte. Wer Schülern klassische Musik nahe bringen will, muss aber mit schneller Musik loslegen, erzählt sie. Sie habe daher mit der Hiphop-Version von „Für Elise“ begonnen. „Das hat die Schüler begeistert.“ Der klassische Part im Lehrplan war dann auch kein Problem mehr.

„Aicha, Aicha, écoute moi“, singt Outlandish-Sänger Isam Bachiri zu Beginn seines Auftritts. In die Stimme der 14-jährigen Khadiye hat sich aber nicht nur er verliebt. Nach der Show summt im Ohr aller Anwesenden nur noch der Name „Khadiye, Khadiye“. Für diesen einen Vormittag sind die Rütli-Schüler die Stars.