„Die Schweiz ist kein Vorbild“

Das Gesundheitssystem mit Steuern zu finanzieren ist nicht der Königsweg. Denn damit belastet man vor allem kleine Einkommen. Nötig wäre es, die Privilegien der Privatkassen zu beseitigen, so der Soziologe Thomas Gerlinger

taz: Herr Gerlinger, das Gesundheitssystem soll mit Steuern finanziert werden und an den staatlichen Tropf. Müssen die Versicherten sich je nach Laune des Finanzministers auf immer neue Kürzungen einstellen?

Thomas Gerlinger: Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Der Staat hätte einen unmittelbaren Zugriff auf die Leistungen der Krankenversicherung und kann diese kürzen und Kosten auf die Patienten verlagern. Aber auch im jetzigen System hat der Staat einen direkten Zugriff auf den Leistungskatalog, wie wir seit der letzten Gesundheitsreform feststellen. Eher stellt sich bei einer stärkeren Steuerfinanzierung das Problem der sozialen Gerechtigkeit.

Wieso, alle zahlen doch Steuern?

Man kann am Beitragssystem viel kritisieren, aber es hat den Charme, dass wir es weitgehend mit einer paritätischen Finanzierung zu tun haben: Arbeitnehmer und Arbeitgeber teilen sich die Last. In dem Maße, wie man von diesem System abgeht, verlagert man die Last auf die Versicherten. Denn sie bringen den Großteil der Steuern auf. Das käme einer Umverteilung von Arbeitgebern zu Lasten der Versicherten gleich.

Was schlagen Sie also vor, wie kann das Gesundheitssystem reformiert und sozial gerecht gestaltet werden?

Zuerst müssen die Schieflagen im gegenwärtigen Gesundheitssystem beseitigt werden. Ein relevanter Teil der Bevölkerung, nämlich die Privatversicherten, können sich aus dem Solidarzusammenhang ausklinken und ihr zumeist geringeres Krankheitsrisiko individuell versichern. Eine Reform des Finanzierungssystems müsste hier ansetzten und in der Perspektive die Zweiteilung von privater und gesetzlicher Krankenkasse aufheben. Diese ist im Übrigen ein Unikat in Europa. Kein anderes Land leistet sich ein solch großes Segment an privat Krankenversicherten. Man könnte höchstens die Niederlande dazu zählen, wo ein Drittel privat versichert ist. Aber dort ist die private Krankenversicherung in einen übergreifenden Risikostrukturausgleich integriert.

Genau das fürchten die Privatversicherer hier, wenn es um den Gesundheitsfonds geht: Einbeziehung bedeutet Abschaffung, klagen sie. Wollen Sie die Privaten abschaffen?

Ich halte es für richtig, eine Bürgerversicherung einzuführen, also die Privilegien zum Aufstieg in eine private Krankenkasse zu beseitigen. Das würde nicht bedeuten, dass die privaten Krankenkassen sofort abgeschafft werden. Diejenigen, die jetzt schon in der Privatkrankenkasse sind, genießen Bestandsschutz, aber mittelfristig heißt das natürlich, dass die private Krankenversicherung ihren Sonderstatus verliert.

Nun sind aber die Privatversicherungen im Gegensatz zu den gesetzlichen Krankenkassen besser für die Alterung der Gesellschaft gerüstet, weil jeder Versicherte eigene Altersrücklagen bildet. Macht man das gesamte System nicht noch anfälliger für den demografischen Wandel, wenn man die Privaten abschafft?

Das glaube ich nicht. Zu jedem Zeitpunkt gilt, dass die Kosten des Gesundheitssystems von der Gesellschaft erwirtschaftet werden.

Die Union wünscht aber mehr private Vorsorge, in Form einer kleinen Kopfpauschale, und vor allem die Entkopplung der Gesundheitskosten von den Löhnen. Beides gibt es schon in der Schweiz – welche Erfahrungen hat man dort damit gemacht?

Man hat erstens die Erfahrung gemacht, dass das Interesse der Arbeitgeber an einer Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen schwindet. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass der Staat sehr zurückhaltend ist bei der Subventionierung sozial Schwacher aus Steuermitteln. In der Schweiz haben wir den höchsten Anstieg der Versicherungsprämien in Europa, gleichzeitig steigen die Ausgaben. Die Schweiz hat das zweitteuerste Gesundheitssystem der Welt.

Wir haben das drittteuerste. Wie notwendig sind Ausgabenbegrenzungen?

Hier wird vieles übertrieben. Die gesetzliche Krankenversicherung verbraucht seit 30 Jahren ungefähr sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn Beitragssätze steigen, hat das nichts mit einem horrenden Ausgabenanstieg zu tun, sondern damit, dass die Einnahmebasis wegbricht, vor allem vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit. Es gibt immer noch ungenutzte Rationalisierungsreserven im System, zum Beispiel in der Arzneimittelversorgung. Hier könnten 3 Milliarden Euro gespart werden. Die Politik macht es sich etwas einfach, indem sie versucht durch eine Umfinanzierung öffentliche Ausgaben zu senken und den Versicherten in die Tasche zu greifen, anstatt wirklich mal an die Strukturen der gesundheitlichen Versorgung zu gehen.

INTERVIEW: ANNA LEHMANN