Jetzt sind es neun Gute

Ich habe meine Meinung geändert: Zwei triftige Gründe, warum die Klinsmannschaft Argentinien auch ohne Schiedsrichterhilfe schlagen wird

VON KLAUS THEWELEIT

Als Gruppenauslosung und Spielplan der WM 2006 veröffentlicht wurden, ergab der prognostische Blick der kühleren Experten – also jener, die Klinsmanns Team nicht schon in der Vorrunde scheitern sahen – Schweden und Argentinien als die wahrscheinlichsten Gegner des Achtel- und Viertelfinales. Ca. 120 % der Experten waren sich einig, dass bei Argentinien Schluss sein würde. Meine erste Prognose: Die Schweden schaffen wir und gegen Argentinien hilft der Schiedsrichter (traditionelle Gastgeberhilfe). Danach ist alles möglich. Seit Samstag, 23.20 Uhr, habe ich meine Meinung geändert: Es könnte auch ohne Schiedsrichter-Hilfe gehen.

Erster Grund: Dem Team Klinsmann/Löw genügten am Samstag zwölf Minuten, um zwei Tore zu schießen und die Schweden fußballerisch so zu verzaubern, dass sie freiwillig das Feld räumten. Dass sie nur noch als Blau-Gelb, als Farben, bis zur 90. Minute den Rasen zierten, aber fußballerisch so paralysiert waren, dass sie selbst die materielle Existenz des deutschen Tors bei Ausführung eines geschenkten Elfmeters ignorierten und den Ball ins himmelblaue Nichts versenkten. Zweimal Podolski, endlich wieder kurz und trocken, nach entschlossener Vorarbeit Klose, hatten alles klar gemacht.

Ein läuferisch und taktisch überlegenes Team brauchte nur noch den Level zu halten. Einzig Friedrich und Metzelder drohten die Verzauberung ein paar Mal zu verlassen. Sie hinken noch ein bisschen in Klinsmanns Traumkonzept. Neun Gute reichten.

Zweiter Grund: Argentinien spielte im zweiten Achtelfinale gegen Mexiko eine Halbzeit lang so, als wollten sie demonstrieren, dass sie nicht unschlagbar sind. Die Mexikaner, als hätten sie das deutsche Spiel gegen Schweden voll in sich aufgenommen, setzten da an, wo die Deutschen aufgehört hatten: hohes Tempo im Mittelfeld, schnelles Führungstor, entschlossenes Angreifen des ballführenden Gegners, schnelles Abspiel, Flügelspiel, das helle Blau in Argentiniens Streifentrikot verblasste, Pekerman wurde erstmals weiß um die Nase. Franz Beckenbauer: „Die Mexikaner waren besser als in ihren bisherigen Spielen, die Argentinier schlechter. Das zeigte sie als schlagbar.“ Würde Franz sich auf die Äußerungen direkt nach dem Spiel beschränken, er wäre nach wie vor der König der präzisen Kurzanalysen.

Was ist festzuhalten zur Ära Klinsmann/Löw; ganz gleich, ob Argentinien geschlagen wird?

1. Fitness. Aus Klinsmanns Kicker-Interview vor Beginn der WM habe ich mir den Satz gemerkt: „Fitness ist nicht alles. Aber ohne Fitness ist alles nichts.“ Klinsmann nach dem Triumph gegen Schweden: „Wir sind jetzt zwei Wochen im Turnier und ich habe 23 gesunde Spieler, alle topfit.“ Der Vorwurf an die Bundesligatrainer, sie würden ihre Spieler mangelhaft trainieren, klingt erneut durch und ist nun hinzunehmen als zutreffender Befund. Die Spieler spielen schneller, präziser und sicherer als in der Bundesliga.

2. Spielanlage. Die zweite Halbzeit gegen Schweden nahm Klinsmann als Trainingsspiel für mehreres, z. B. Scheibenschießen aufs gegnerische Tor aus der Distanz mit zunehmender Feinjustierung der Fußhaltungen. Das ergab zweimal Aluminium und die Chance für den schwedischen Torhüter, sich als Weltklassemann zu präsentieren (Trostpreis). Zweite Trainingseinheit: Übungen im One-Touch-Football. Eine Demonstration, wie man das Tempo erhöht bei gedrosselter Kraft und nicht ganz voller Konzentration. Viele der Schnellpässe kamen noch ungenau, Bälle wurden verloren, aber sofort wiedererkämpft (Schweinsteiger!). Man sieht: Das kommt noch, wir sind auf dem Weg, aber heute brauchen wir es noch nicht. Wir brauchen auch noch nicht Ballacks (bald notwendige) Kopfballtore. Konsequent geht Ballack nicht in die Spitze. Wir brauchen auch (heute) Odonkors Raketenantrieb nicht. Und: Wir haben nicht nur zwei Sechser, Frings und Ballack (dazu Jens Lehmann als Spieleröffner), wir haben auch zwei Zehner, Ballack und Schneider. Schneider ist jetzt, wie Ballack, kurz vor dem ersten Torerfolg: vorn halbrechts immer anspielbar, läuferisch der intelligenteste deutsche Spieler, technisch auf dem Stand von 2002. Die Abwehr: zum dritten Mal zu null. Beckenbauer: „Die erste Halbzeit war die beste einer deutschen Mannschaft seit 1990.“ Sieh mal einer an.

3. Erwartungshaltung. Das von allen Seiten als selbstverständlich vorausgesetzte Überstehen der Vorrunde wurde von Klinsmann/Löw nicht als selbstverständlich genommen, sondern akribisch erarbeitet. Klinsmanns Aussage, selbst das Erreichen des Viertelfinales sei für ihn noch nichts, erst ab dem Halbfinale würde er von einem (Teil-)Erfolg reden, muss also als fundierte Erwartung genommen werden. Heißt: Die Klinsmannschaft schlägt Argentinien, kein Zweifel für das Team.

KLAUS THEWELEIT ist Kunstprofessor, Philosoph und Leitfigur der 78er. Er gehört zum WM-Analyseteam der taz.