Wer die Wäsche mit der Hand wäscht

LANGE FILME Außerhalb Europas werden Filme gemacht, die manchmal mehrere Stunden dauern und mit langen Einstellungen arbeiten. Sie erzählen uns von anderen Zeithorizonten und von Gesellschaften, in denen die vorindustrielle Erfahrung noch präsent ist

„Erst mit den spanischen Kolonisatoren“, sagt Lav Diaz, „hielt die Reglementierung der Zeit Einzug“

VON CRISTINA NORD

Weit hinein in die hügelige Landschaft blickt die Kamera. Das Licht ist diffus, es könnte früher Morgen sein, vielleicht auch später Nachmittag. Eine asphaltierte Straße zieht sich in einer S-Kurve durch das Bild; hinten rechts kommt sie aus einem Wäldchen hervor; vorne links führt sie aus dem Bild heraus. Hohes Gras säumt sie. Manchmal fährt der Wind durch die Halme, manchmal trägt er Satzfetzen mit sich. Hähne krähen, Hunde bellen, ohne dass man sie sähe. Ab und zu fährt ein Auto vorbei, sein Tempo macht die Langsamkeit der Ochsenkarren bewusst, die auf der Straße unterwegs sind. Anfangs sieht man sie nur als Punkte in der Tiefe des Bildes. Sobald sie sich dem Standort der Kamera nähern, ist das Geräusch der Hufe und der Wagenräder auf dem Asphalt zu hören. Bis der letzte Wagen der Karawane die Straße passiert hat und nach links aus dem Bild verschwunden ist, vergehen sechs Minuten. Das Bild bleibt dann noch einmal zehn Sekunden stehen, ohne dass etwas geschieht.

Diese lange, statische Einstellung bildet den Auftakt zu „Heremias“, einem 540-minütigen, auf Digitalvideo gedrehten Schwarz-Weiß-Film aus dem Jahr 2006 von Lav Diaz. Der 1958 geborene philippinische Regisseur ist bekannt für Filme von monumentaler Länge. „Melancholia“ aus dem Jahr 2008 etwa dauert 450 Minuten, „Evolution of a Filipino Family“ aus dem Jahr 2004 gar 643 Minuten, also fast elf Stunden. Das ist eine Herausforderung für Kinobetreiber und Zuschauer. Denn ein Film von solcher Länge verlangt nach einer nicht-kommerziellen Aufführpraxis, wie sie nurmehr an wenigen Orten und zu wenigen Anlässen möglich ist. Und er verlangt nach einem Publikum, das nichts dagegen hat, wenn das Verhältnis von Tagwerk und Abendvergnügen auf den Kopf gestellt wird.

Folgen des Niedergangs

Trotzdem ist Diaz nicht der einzige Regisseur, der so lange Filme dreht. Der chinesische Filmemacher Wang Bing etwa hat 2003 die 550 Minuten lange Dokumentation fertig gestellt. „Tie Xi Qu: West of the Tracks“ ist ein Triptychon über den Niedergang der Stahlindustrie im Nordosten von China. Wie so oft in China vollzieht sich durch die Deindustrialisierung eine gewaltige gesellschaftliche Umwälzung, deren konkrete Folgen Wang Bing festhält. Sein Film lief im Forumsprogramm der Berlinale und kommt am Sonntag im Rahmen der Filmreihe „Spuren eines Dritten Kinos“ im Berliner Zeughaus-Kino zur Aufführung.

Zwei Tage später, am Dienstag, steht dort ein weiterer langer, wenn auch nicht monumental langer Film auf dem Programm: Cong Fengs knapp vierstündige Dokumentation „Dr. Ma’s Country Clinic“ (2008). Sie handelt von der mühseligen Existenz eines Landarztes und seiner Patienten in der kargen, ärmlichen Provinz Gansu in Zentralchina. Je mehr Zeit sich Cong Feng nimmt, umso deutlicher treten die Dramen zutage, die die Protagonisten durchleben: etwa das Leid einer Frau, die nach Gansu zwangsverheiratet wurde und nun krank vor dem Arzt sitzt. Der legt die Ursache ihres Leidens zwar durch geduldiges Fragen frei, kann aber nichts daran ändern. Andere Filmemacher wie Raya Martin aus den Philippinen, Paz Encina aus Paraguay oder Apichatpong Weerasethakul aus Thailand beschränken sich zwar auf die herkömmlichen anderthalb oder zwei Stunden Filmdauer, arbeiten aber immer wieder mit außergewöhnlich langen Einstellungen, sogenannten Plansequenzen. Ein Bild steht für zehn Minuten fast reglos wie in Weerasethakuls „Blissfully Yours“ (2002). Von oben schaut die Kamera auf ein junges Paar, es liegt auf einer Lichtung im Wald. Die junge Frau kuschelt sich an die Seite des jungen Mannes, beiden steht der Schweiß auf der Stirn, der Wind spielt mit dem trockenen Laub am Boden.

Neue Ästhetik

Ohne die digitale Technik wären neun- oder zehnstündige Filme kaum denkbar, weil sie zu teuer wären (natürlich gibt es Ausnahmen, Jacques Rivettes gut zwölfstündiger „Out 1. Noli me tangere“ aus dem Jahr 1971 ist eine). Und Einstellungen von einer halben Stunde Dauer sind nur deshalb möglich, weil beim digitalen Drehen keine Filmrolle an ihr Ende kommt. So wie in den 50er und 60er Jahren neue, leichtere Kameramodelle die Filmproduktion beweglicher machten und einen neuen Umgang mit der Wirklichkeit ermöglichten, so schafft auch jetzt die neue Technik eine neue Ästhetik. Was aber macht die Dauer reizvoll statt langweilig? Was leisten lange Filme und lange Einstellungen? Der Eindruck drängt sich auf, dass gerade Filmemacher aus Entwicklungsländern mehrstündige Filme drehen. Möglicherweise tritt die Entschleunigung, tritt die Ausdehnung in der Zeit an jene Stelle, die bei einem Protagonisten des Dritten Kinos wie Glauber Rocha das revolutionäre Ungestüm innehatte. Wenn die Radikalität Rochas in den 60er Jahren darin lag, dass er die Ordnung der Erzählung und, in der Erzählung, die soziale Ordnung zerfetzte, so liegt die Radikalität bei Lav Diaz darin, dem Weg des Ochsenkarrens so lange zu folgen, bis dieser Weg an sein Ende kommt. Selbst wenn es eine Stunde dauert.

Auf die Frage, warum seine Filme so lang seien, hat Diaz in einem taz-Gespräch mit Tilman Baumgärtel geantwortet: „Ich bin der Sohn eines Bauern und einer Lehrerin, und als ich in Cotabato auf der Insel Mindanao im Süden der Philippinen aufwuchs, musste ich jeden Tag zehn Kilometer zur Schule laufen und nach der Schule wieder zehn Kilometer zurück. Diese langsame Ästhetik ist Teil meiner Welterfahrung.“ Die langen Einstellungen und die lange Filmdauer haben also eine materielle Grundlage, sie beruhen auf einer konkreten, aus dem Alltag gespeisten Erfahrung. Wenn eine Gesellschaft nicht industrialisiert ist und in erster Linie von Landwirtschaft lebt, dann hat sie einen anderen Zeithorizont als eine Gesellschaft, die sich an den Takt des Fordismus gewöhnt hat, oder als eine, die diesen Takt hinter sich gelassen hat.

Diese allgemeine Feststellung hat sehr greifbare Auswirkungen. Wer Wäsche mit der Hand wäscht, ist länger beschäftigt als der, der sie in die Maschine steckt. Wer einen Acker mit dem Ochsen pflügt, braucht länger als der, der einen Traktor hat. Und wer zu Fuß geht, ist länger unterwegs als der, der Auto fährt. Nicht umsonst kommt in der Eröffnungseinstellung von „Heremias“ zur Geltung, wie lange es dauert, von einem Ort zum anderen zu gelangen, solange man nicht motorisiert ist. Genau dies ist ein Merkmal von Unterentwicklung: dass noch die einfachsten Dinge lange dauern und der Wunsch, produktiv zu sein, an den schlechten Voraussetzungen zerschellt.

Immer noch rumhängen

Vor diesem Hintergrund betrachtet, bilden die Dauer der Filme und die Dauer der einzelnen Einstellungen die Mühsal der Unterentwicklung auf unmittelbare Weise ab. Das ist aber längst nicht alles. „Erst mit den spanischen Kolonisatoren“, sagt Diaz, „hielt die Reglementierung der Zeit Einzug. Um sechs Uhr morgens muss man die ‚oración‘ beten, um sieben Uhr zu arbeiten anfangen und so weiter. Aber wenn man sich heute auf den Philippinen umsieht, sieht man, dass die Filipinos immer noch viel rumhängen.“

Welche Gestalt hätte ein Film, wollte er dem Zeitreglement der Spanier entsprechen? Er müsste eine bestimmte Summe von Ereignissen in einer 90-minütigen, dramaturgisch verdichteten Erzählung organisieren. Wer dagegen die Zeiterfahrung, die Diaz im Sinn hat, zum Maßstab nimmt, verweigert sich der Effizienz der dramaturgisch getakteten Erzählung. Ein solcher Film kennt keine geradlinige Entwicklung und keine Chronologie.

Das bedeutet auch, dass man beim Zuschauen der Zeit selbst gewahr wird. Diaz’ Arbeit an „Evolution of a Filipino Family“ zog sich über elf Jahre. Jedes Mal wenn das Geld ausging, mussten die Dreharbeiten unterbrochen werden. An den Gesichtern und Körpern der Schauspieler hinterließ die Zeit Spuren, was der Film nicht überschminkt, sondern ausstellt. Hinzu kommt, dass Diaz am Anfang analoges Video benutzte. Später wechselte er zu digitalem Video. Die analog gefilmten Sequenzen sind niedrig aufgelöst und von dementsprechend schlechter Qualität, was zur Folge hat, dass der Film seine Entstehungszeit schon in seiner wechselhaften Beschaffenheit sichtbar macht. Zugleich wird man in den knapp elf Stunden, die der Kinobesuch dauert, auf die eigene Erfahrung von Zeit zurückgeworfen. Man kämpft mit dem Kinosessel und mit der Müdigkeit, man erfährt, wie gut oder schlecht es um das eigene Konzentrationsvermögen steht und wohin die Gedanken schweifen, wenn man sie lässt. Zudem schafft eine auf sechs Minuten ausgedehnte Einstellung eine andere Form der Wahrnehmung. Es geht nicht darum, die Bildinformationen zu entziffern und dann zum nächsten Bild zu springen, es geht um Kontemplation, um ein Gewahrwerden von Schweißtropfen, von krähenden Hähnen und im Wind sich neigenden Grashalmen.

Darin steckt eine Ambivalenz. Denn wenn die Erfahrung der Langsamkeit die Hauptattraktion für ein westliches Publikum ist, beschränkt man sich schnell auf exotistisches Staunen. Die Filme von Lav Diaz, Wang Bing oder Cong Feng wären dann nicht viel mehr als ein Gegenmittel gegen das Zeitreglement, das uns die postindustrielle Gesellschaft auferlegt, ein Antidot gegen den immer schnelleren Fluss der Informationen, gegen die permanente Erreichbarkeit und gegen die Verwischung von Arbeits- und freier Zeit, eine Art Yoga-Stunde fürs Auge. Wären da nicht die Härten der Existenz, die erst in der Dauer der Filme zum Vorschein kommen.

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