Wovon Tanzflächen träumen

Ratlos inmitten von Reichtum: Am vergangenen Wochenende präsentierte das Sonar Festival in Barcelona den Stand der Dinge in der elektronischen Musik. Allerdings mangelte es trotz einiger Höhepunkte der diesjährigen Ausgabe an einem Fokus

VON TOBIAS RAPP

Es mag tausendmal funktioniert haben, hier tut es das nicht. „Na? Fühlt ihr euch auch zurückversetzt in die Siebziger, als ihr alle Rollschuh gelaufen seid?“, ruft die Sängerin der Gruppe Chic ins Publikum, in dem sicheren Gefühl, so noch jede Crowd auf ihre Seite bekommen zu haben. Doch dieses eine Mal läuft sie ins Leere. Auch im zweiten Anlauf, als sie die „real music“ der glücklichen Siebziger beschwört, die noch ohne Computerunterstützung ausgekommen sei. Es ist das Sonar Festival, Chic sind die Headliner des freitäglichen Abendprogramms, die größte Halle des Messegeländes ist bis unters Dach gefüllt, die Discomaschine der Chic Organisation spuckt zur Freude der versammelten achttausend Hit auf Hit aus – doch ausgerechnet deshalb ist nun wirklich niemand hier. Nicht zur Anrufung falscher Nostalgien und schon gar nicht zur Feier der vermeintlich echten Musik des prämaschinellen Zeitalters.

Nein, wenn Nile Rodgers sich hier als irgendetwas feiern ließ, dann als einer der Väter dessen, was das Sonar jeden Frühsommer als wichtigstes europäisches Festival der elektronischen Musik ein Wochenende lang präsentiert: den großen Traum der allumfassenden Tanzfläche, auf der jeder das gleiche Recht hat anders zu sein. Man kann auch House Nation dazu sagen (die angrenzenden Königreiche und Fürstentümer hatten ebenfalls ihre Repräsentanten geschickt).

Zum dreizehnten Mal fand das Sonar dieses Jahr statt – doch so wunderbar eine ganze Reihe von Konzerten waren, und so schön es immer wieder ist, über diese Generalversammlung der elektronischen Musik zu schlendern, sich hier das eine und dort das andere anzuhören, mit diesem zu plaudern und mit jenem (auch die schiere Größe des Ganzen ist ja eine Qualität): Man konnte sich des Gefühls nicht erwehren, als sei das Festival von einer gewissen konzeptuellen Ratlosigkeit durchzogen gewesen.

Dance, Dance, Dance

Das begann mit dem diesjährigen Schwerpunkt: „Black Music“ hatten die Veranstalter ihn etwas hilflos betitelt. Hilflos nicht nur, weil das nun wirklich alles oder nichts sein kann. Hilflos aber auch, weil Black Music nichts weiter als die große Schleife um ein so anständig wie beliebiges Sammelsurium von Künstlern war – und mit einem Headliner im Mittelpunkt, auf den sich der Black-Music-Begriff so bruchlos gar nicht anwenden lässt.

Denn tatsächlich war Nile Rodgers für einen kurzen historischen Moment einmal Mitglied der Black Panther Party gewesen. Und wenn man ihm bei der Pressekonferenz so zuhörte, wie er über die Entstehung einiger seiner Stücke plauderte, dann hatte er immer einen scharfen Blick für die colour line im Showbetrieb: Der Überklassiker „Good Times“ zum Beispiel, erzählte er, sei eine Hommage an Minstrel-Künstler der Zwanzigerjahre gewesen. An afroamerikanische Sänger und Tänzer also, die sich die Gesichter schwarz färbten, um den Weißen zu ähneln, die diese kulturelle Praxis als rassistische Persiflage schwarzer Lieder und Tänze einmal eingeführt hatten.

Trotzdem liegen die Verhältnisse komplizierter. Nicht nur, weil Nile Rodgers sich den Funk überhaupt erst beibringen musste, nach einer klassischen Ausbildung als Gitarrist. Auch nicht, weil – wie er erzählte – sein entscheidender musikalischer Initiationsritus ein ganztägiger Acidtrip im Jahre 1967 war, bei dem in einem fort die Doors liefen. Oder weil Rodgers für seine Produktion von Diana Ross’ nicht totzukriegenden Gassenhauer „Upside Down“ versuchte, seine Gitarre so klingen zu lassen wie aus einer Giorgio-Moroder-Produktion – so deutsch wie möglich.

Disco – im Verständnis von Nile Rodgers und seinem vor zehn Jahren verstorbenen Partner Bernard Edwards – war vor allem eine große Universalmaschine. Aus einer minoritären Position heraus argumentiert, sei sie schwul oder schwarz, aber eben für alle da. Für alle, die am Türsteher vorbeikommen. So inszenierten sie sich in den späten Siebzigern, als sie sich Chic Organisation nannten und sich im feinen Zwirn gekleidet als wahr gewordener Traum sozialer upward mobility für ihre Cover fotografieren ließen. Und so funktionierte auch ihre Musik. Bis heute.

Man muss sich Nile Rodgers und Bernard Edwards als ein ähnlich glückliches Produktionspaar vorstellen wie sonst nur noch Lennon/McCartney, Davis/Bacharach oder Marx/Engels: Wenn man Rodgers auf der Bühne stehen sah, wie er das Intro zu „I Want Your Love“ in seinem soften Stakkato aus der Gitarre fallen ließ, kam er einem vor wie der letzte Musiker vor der endgültigen Mechanisierung der Tanzmusik. Er spielt selbst schon mit der strahlenden Präzision einer Maschine.

Black Music hätte es also nicht sein müssen – Disco dagegen schon, und gerade für ein Festival wie das Sonar, das so sehr auf seinen Ruf hält, am Puls des aktuellen Geschehens zu sein, war es dann doch erstaunlich, dass kein Vertreter des aktuellen Space-Disco-Revivals eingeladen war. Auch die Welle der Disco-Edits, jene Computer-Schnitt-Kunst, alte Discotracks am Computer den aktuellen Tanzflächenanforderungen anzupassen, war offensichtlich an den Sonar-Verantwortlichen vorbeigeschwappt. Auch wenn diese Edits gegenwärtig so präsent sind wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Auch Dubstep-Künstler suchte man vergeblich – was erstaunlich war, hatte das Sonar in den vergangenen Jahren von Baile Funk bis Grime immer wieder Genres präsentiert, die sich der Bassforschung verschrieben haben.

Schwerpunkt Japan

Stattdessen legte das diesjährige Sonar seinen zweiten Schwerpunkt auf Japan. Was in der jenseits der Nationenform organisierten Welt der elektronischen Musik durchaus Sinn macht. Denn vernetzt mit dem Rest der Welt mag es sein – doch vor allem als Importeur. Die stilsichersten Hipster der Welt dürften sich auf den Straßen von Tokio herumtreiben, und es dürfte kaum eine amerikanische Platte oder einen europäischen Turnschuh der letzten fünfzig Jahre geben, der sich dort nicht in irgendeinem Spezialgeschäft erwerben lässt – als aktiv Beteiligte an diesem kulturellen Warenaustausch treten Japaner nur selten auf.

So vielfältig die japanische Musikproduktion für den japanischen Markt selbst ist, in den Export finden vor allem Künstler aus zwei Genres: experimentellem Hiphop und experimentellem Noise. Wahrscheinlich, weil sich hier am vortrefflichsten jene beiden Attribute verbinden lassen, die man im Westen mit japanischer Popkultur als ganzer verbindet: Radikalität und Intensität.

In Barcelona sah das dann im Idealfall so aus wie Tucker, einer Art Hardcore-Variante der berühmten Funkrhythmusgruppe Booker T & The MGs – bloß als Einmannshow. Wie ein Berserker sprang er zwischen Orgel, Bass, Gitarre, Schlagzeug und Plattenspieler hin und her, spielte eines der Instrumente an, loopte es, rannte zum nächsten, machte Handstand auf der Orgel und ließ auch sonst keine Geste der Überschreitung aus, die sich in fünfzig Jahren Popmusik angesammelt haben: beim Gitarrespielen verzückt das Gesicht verziehen, sich das Hemd herunterreißen, mit dem Fuß scratchen.

Auch schön: Optrum, ein konzeptkunstgestähltes Krachmusik-Duo. Der eine spielte Schlagzeug, der andere fingerte auf einem Lichtsensor herum, als wäre er eine Gitarre, dabei sah er aus wie eine Neonröhre. Was im Grunde auch nicht weiter wichtig war, das Entscheidende waren die Tritte und Sprünge auf zwei Dutzend Effektgeräte, die auf dem Boden lagen. Das konnte aber auch schief gehen, wie bei Softpad, einer Musikdesignerklangforschercombo, die Landkarten in Klänge umsetzt – ab und zu machte es pling und plong, dazu sah man auf einer Leinwand hinter der Bühne Stadtpläne, während sich das Publikum vor der Bühne gepflegt unterhielt.

Softpad waren nicht die Einzigen. Tatsächlich setzte sich dieses Mal auch eine Tendenz fort, die einem schon in den vergangenen Jahren oft das Tagesprogramm auf dem Festivalgelände in der Altstadt verleiden konnte: So gut wie alles, was einen geraden Rhythmus hat, war in das Nachtprogramm in den Messehallen verlegt. Dort wird schließlich das Geld verdient, mit dem das ganze Festivalprogramm bezahlt wird. So blieb – von einigen Ausnahmen abgesehen – für den Tag nur das experimentelle Geblubber und Geballer, nichts, was man bei knapp dreißig Grad im Schatten tagein, tagaus hören möchte.

Auf der anderen Seite hat diese Booking-Politik aber auch für die Nacht ganz eigenartige Folgen. Denn sosehr man sich den Hamburger Houseproduzenten Isolée tagsüber auf der großen Bühne wünschen würde – so schön ist es auch, seinen Geschmacks-House des Nachts vor fünf- oder sechstausend Leuten auf einer der riesigen Tanzflächen zu hören. Genauso Alan Abrahams, der im vorigen Jahr eine wunderbare Platte unter dem Namen Portable veröffentlicht hat und Samstagnacht als Body Code seinen polyrhythmisch hochgeschichteten Sound spielt.

Man freut sich und fragt sich, ob es eigentlich der mangelnde Mut anderer Veranstalter ist, der diese Acts nie vor so großen Menschenmengen spielen lässt. Oder ob Barcelona eben ein besonders offenes Publikum hat. Vielleicht ist es ab halb drei und einem bestimmten Breitheitslevel aber auch eh ziemlich gleichgültig, was gerade läuft. Hauptsache, es gibt eine Bassdrum.