BERND PICKERT ÜBER CHILES NEUE PRÄSIDENTIN
: Die Diktatur lebt noch

So klar wie Michelle Bachelet hat noch nie jemand die Präsidentschaft in Chile gewonnen. So gering wie diesmal war die Wahlbeteiligung allerdings auch noch nie.

Das Ergebnis verweist darauf, wie dringend Chile Reformen braucht, und zwar grundlegende. Schon in ihrem ersten Wahlkampf war Bachelet mit dem Versprechen angetreten, das Bildungssystem zu reformieren und die Ungleichheit im Land zu bekämpfen. Doch es passierte nichts. Bachelet steht daher wie niemand sonst für Reformwillen – aber eine erschreckend große Mehrheit der Wahlberechtigten, 58 Prozent glaubt ihr nicht mehr und ging gar nicht erst wählen.

Bildungsreform, Verfassungsreform, Steuerreform – das alles steht in der neuen Legislaturperiode an. Dabei kann es sich die Koalition nicht noch einmal leisten, vier Jahre zu verlieren. Und mehr noch, es wäre auch für die Reste sozialer Kohäsion in Chile katastrophal.

Allerdings: So klar die Aufgabe, so schwer ist sie zu bewerkstelligen. Denn der Stillstand der letzten Jahrzehnte entstand ja nicht zufällig, er war gewollt. Er ist das schwere Erbe einer Diktatur, die wie keine andere in Lateinamerika den Sozialstaat zerschlagen hat, eine neue Wirtschaftselite aus dem Kreis der Militärs schuf und deren Privilegien so absicherte, dass sie die Abgabe der Macht nahezu unbeschadet überstehen konnte. Bis heute.

An den Wahlurnen hat Bachelet die Verfechter des alten Systems zum zweiten Mal geschlagen. Im wirklichen Leben steht der Sieg noch aus. Und der Gegner ist zäh. Bachelet wird dafür Unterstützung brauchen – auf den Straßen Chiles genauso wie von der internationalen Gemeinschaft, die sich in der Vergangenheit allzu bereitwillig von den chilenischen Wachstumsdaten hat beeindrucken lassen.

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