Pfingstfest für Existenzialisten


VON HOLGER PAULER

Es gab Momente, da hieß es nur noch: Warum? Warum bei Kälte und Regen in einem klammen, stinkenden Zelt übernachten? Warum das heimische Badezimmer gegen chemisch gereinigte Dixie-Klos eintauschen? Warum sich vier Tage lang von elf Uhr morgens bis spät in die Nacht mit Musik voll dröhnen lassen, die 99 Prozent der Menschheit als „atonalen Lärm“, „krank“ oder bestenfalls als „schwierig“ bezeichnen würden?

Pfingsten 2001 war es mal wieder so weit. Ein trister Sonntagmorgen. Gefühlte vier Grad. Nach Lärm durchwachter Nacht bahnte ich mir den Weg durch den vom Dauerregen aufgeweichten Weg. Ich war auf der Suche nach einem Becher Kaffee. Halb volle Bierflaschen und Verpackungsreste, der Geruch von exotischen Gewürzen und Haschisch wechselte alle paar Meter mit einem üblen Gemisch aus Müll und Schweiß. Aus dem Off klangen Metallgitarren, Saxofone, Techno-Beats und Hare-Krishna-Schellen.

Irgendwann kam ich zum einzig geöffneten Stand. Die Rettung – vorerst. Dutzende Leidensgenossen saßen, lagen auf den Holzbänken, die Augen halb geöffnet, frierend vor sich hin kauernd. Ich gesellte mich dazu, wärmte meine Hände an der Tasse und vergas darüber das Trinken. Egal. Es war gerade Halbzeit beim Jubiläumsfestival: 30 Jahre NewJazz in Moers. Und der Film ging weiter. Vor uns lagen noch zwei randvolle Tage: heftigste Elektronik-Avantgarde von Supersilent, die Ego-Trips von Pere-Ubu-Mastermind David Thomas oder die Gitarrenausflüge von Free-Rock-Legende Fred Frith. Erst danach, am Montagabend, konnte ich beruhigt nach Hause fahren, das Badewasser einlassen und anschließend in meinem warmen, weichen Bett die Augen schließen – kein Beat, kein Schrei, kein Bier. Absolute Stille.

Pfingsten ist das Fest für Existenzialisten, vor allem in Moers am Niederrhein. Seit 34 Jahren läuft dieser lange, seltsame Trip. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Auch wenn es vor einem Jahr so aussah. Damals verkündete Festivalgründer Burkhard Hennen, dass Moers 2005 das letzte Festival unter seiner Regie sei. Es seien „Dinge passiert“, die er nicht „länger hinnehmen“ wolle. Der Streit mit der Stadt, das Zerwürfnis mit dem Westdeutschen Rundfunk hatten an der Substanz des Alleinherrschers Hennen gezehrt.

Das „neue“ Moers

Dabei gehörten Hennens Drohungen, dass er aussteigen werde, schon zum Pfingstritual. „Die Entscheidung war bereits gefallen. Das zwanzigste Moers-Festival sollte für mich das letzte sein“, schrieb er Anno 1991. „Die Spannungen mit dem seinerzeitigen Kulturdezernenten“ schienen „unüberbrückbar“. Fünf Jahre später drohte Hennen mit dem Ortswechsel: „Kultur kann man nicht verhindern, sie sucht sich nur einen anderen Platz.“ 2001 schrieb er: „Ich bin dem Ausstieg so nahe wie nie.“ Zwei Jahre später stieg der WDR als Partner aus, weil Hennen sich nicht in die Programmplanung hinein reden ließ. Das Festival überlebte. Doch als niemand mehr Hennens Drohungen ernst nahm, war plötzlich Schluss. Und für viele Moers-Kenner schien klar: Ohne Hennen kein Festival. Ein Irrtum.

Das norwegisch-tunesische Projekt „Fly“ wird heute Abend das 35. Moers Festival eröffnen. Das „neue“ Moers, wie es in der Ankündigung heißt. Festivalleiter Reiner Michalke hat dem norwegischen Perkussionisten und Komponisten Terje Isungset einen Kompositionsauftrag erteilt: elektronische und mechanische Klänge. Isungset bringt zudem grelle Bilder und einige Überraschungsgäste mit, darunter Arve Henriksen, der „Artist in Residence“. Der Kölner Michalke hat ihn sich zum Dienstantritt persönlich geschenkt. „Es war mir wichtig, diesen Musiker über das gesamte Festival da zu haben“, sagte Michalke im taz-Interview (taz nrw, 18. 3.). Henriksen spielt an drei Tagen, in drei verschiedenen Projekten. Er stehe mit Musikern wie Matthew Herbert, Jamie Lidell und Mugison für einen „Paradigmenwechsel“, so Michalke.

Als der polnische Saxofonist Michał Urbaniak am 10. Juni 1972 den Hof des mittelalterlichen Moerser Schlosses betrat und mit seinem Quintett die Grafschafter Bürgerschaft aufschreckte, konnte niemand die Folgen erahnen. 800 Menschen versammelten sich damals unter freiem Himmel, um der noch freieren Musik zu folgen.

Es war die Hochzeit des europäischen FreeJazz. Der Bassist Peter Kowald, Saxofon-Berserker Peter Brötzmann oder der im vergangenen Jahr verstorbene Albert Mangelsdorff prägten das erste Line-Up. Später kamen FreeJazz-Legenden wie Anthony Braxton oder Steve Lacy hinzu. Das Festival wurde von zwei auf vier Tage ausgedehnt. Schon bei der dritten Auflage musste der kleine Schlosshof kapitulieren – vierstellige Besucherzahlen konnte er nicht fassen. Das Festival zog über den Damm auf die andere Seite des Moersbaches in den riesigen Freizeitpark.

Von 1975 bis 1981 fand das Festival als Open Air im Freizeitpark statt. Der Wettergott outete sich derweil als Jazzfeind. 1979 regnete es vier Tage und vier Nächte. Bis der Bandleader Sun Ra mit seinem intergalaktischen Arkestra die Bühne betrat. Mit den ersten schreien der BigBand stoppte der Regen und setzte erst wieder nach dem letzten Akkord ein. Der Wetterdienst rätselt heute noch über das Regenloch am Niederrhein. Vielleicht ließ Sun Ra seine galaktischen Kontakte spielen. Pfingsten 1992 traf die Nachricht ein, dass er die Reise zu seinem Heimatplaneten Saturn angetreten hatte – für immer.

1982 flüchteten die Moerser in die Eishalle. Das Programm des Festivals passte sich dem kalten Wellblech-Ambiente an: Die New Yorker Downtown-Szene hatte in diesem Jahr ihre ersten Auftritte. Orthodoxe FreeJazzer und hippe Underground-Freaks trafen hier aufeinander. Auf und vor der Bühne: Roscoe Mitchell, Don Cherry oder Ornette Coleman vs. John Zorn, David Moss, die Skeleton Crew oder Massacre.

„Das ist doch Krach“

1987 ging es dann zurück in den Freizeitpark – unter das Dach des größten Zirkuszeltes Europas. Das Label „NewJazz“ wurde ausrangiert und erschien auf den Plakaten nur noch als Reminiszenz an vergangene Zeiten. Das „Moers Festival“ lockte immer mehr Menschen mit einem Mix aus Jazz, Rock, Funk, Weltmusik, HipHop und Elektronik. Namen wie Herbie Hancock, David Murray, Maceo Parker oder Residents prägten den Übergang zum neuen Jahrtausend.

Die Besucherzahlen schossen in den fünfstelligen Bereich. Die sperrige Avantgarde wurde in die morgendlichen Projekte geschoben. Dort konnten sich Fans und Musiker bei Kaffee und Brötchen austoben. Drei Tage. Work in Progress.

Meine Annäherung an das Festival vollzog sich nur langsam. Als gebürtiger Moerser – ziemlich genau drei Monate vor dem ersten Festival – kommt man nicht daran vorbei. Die schönsten Vorurteile über das Festival – „langhaarige Gammler“, „die Haschen doch alle“ und „das ist doch keine Musik, das ist doch Krach“ – konnten mich nur anfangs beeindrucken. Später machten sie mich neugierig. Natürlich. Für meine Eltern muss es ein Schock gewesen sein, als ich irgendwann morgens nach Hause kam und ihnen sagte, ich hätte die Nacht beim „Jazz-Festival“ verbracht. Sofort wurde der Familienrat einberufen. Der Junge war verloren.

Dennoch war 1989 das Bizarre-Festival auf der Loreley, waren Cure, Pixies und Sugarcubes noch interessanter als John Zorns „Naked City“. Im Jahr darauf kamen die „Einstürzenden Neubauten“ nach Moers. Auf eine Karte verzichtete ich trotzdem. Hämmer, Bohrer und Schreie bahnten sich ihren Weg durch die Zeltwände. Durch einen Spalt konnte ich in das Zelt schauen. Irgendwann musste ich da rein.

Die erste Eintrittskarte holte ich mir 1991. Anarcho-Doktor Eugene Chadbourne lockte mit seiner Allstar-Band auch Nicht-Jazzfans nach Moers: Jimi Carl Black und Don Preston von Zappas Mothers of Invention, Jonathan Segel von Camper van Beethoven und Violent Femmes-Bassist Brian Ritchie. Das Highlight meines ersten Moers-Jahres war allerdings das Guitar-Quartett von Fred Frith. Ich hatte so etwas noch nie vorher wahrgenommen. Freie Improvisation, schräge Kompositionen, unerhörte Sounds. Moers hatte mich und ich hatte Moers. Die Welt der Musik steht mir seitdem offen.

24 Stunden nonstop

Und anderen auch: 25.000 Karten wurden in den vergangenen Jahren jeweils verkauft. Die Konzerte wurden hoch gejubelt, die Qualität war egal. Aber darum ging es auch nie. „Moers war schon mit der Lage im Freizeitpark mit dem großen Zirkuszelt immer nahe am Spektakel“, sagt Festivalchef Reiner Michalke. Das Publikum inszenierte sich lieber selbst – und kaufte sich auch nicht unbedingt Karten.

Jeder zweite Besucher des Freizeitparks kommt nach Moers, um zu feiern: Punks, Techno-Freaks, Rocker, Hippies. Zehntausende an der Zahl. Fliegende Händler bieten Ethno-Junk an. Indische Halstücher und Energiebällchen. Die Sound-Systems oder Anlagen laufen 24 Stunden Nonstop. An allen vier Tagen. Nicht nur zum Leidwesen der Anwohner. Wer im Park zeltet und in den Genuss der Konzerte kommen möchte, sollte eine Packung Ohropax immer zur Hand haben. Ansonsten wird irgendwann selbst das wärmste Saxofon zur scharfen Waffe für Ohr und Gehirn statt zur Einstiegsdroge.

Haschisch und Gras werden „stillschweigend geduldet“, sagte Hennen 2001 gegenüber der taz. Nur gegen harte Drogen würde man vorgehen. Die Polizei sperrte darauf hin alle Autobahnausfahrten und inszenierte eine spontane Drogenrazzia. Nie waren das Festival und seine Besucher unentspannter als in diesem Jahr. Es sollte die einzige Razzia bleiben.

„Moers ist ein alter Sack geworden“, schrieb die Zeitschrift Jazzthetik zum 30. Jubiläum. Und der Kreis schließt sich. Wie schon bei der ersten Auflage vor 34 Jahren steht auch in diesem Jahr FreeJazzer Peter Brötzmann auf der Bühne. 28 Jahre nach seinem letzten Moers-Auftritt. Ein Ereignis. Und sollte ich dann Sonntagmorgen mal wieder bei Kälte und Regen meine Knochen zusammensuchen und über das Gelände schlendern, denke ich mir wahrscheinlich: Warum leiste ich mir nicht mal ein Hotelzimmer?