Aufbruch in die Utopie

In der digitalen Öffentlichkeit der Blogs, Foren und Tauschbörsen hat sich ein bunter „Bürgerjournalismus“ etabliert, der mit klassischen Medien konkurriert – und die alte Vision einer Demokratisierung des Internets doch noch Wirklichkeit werden lassen könnte

VON PHILIPP DUDEK

Die Rede war großartig. Denn Stephen Colbert, US-Komiker mit großem Ego, weiß, wie man ordentlich Aufsehen erregt. Als sich Ende April bei einer Party in Washington die politischen Korrespondenten feierten und George W. Bush die akkreditierten White-House-Journalisten um sich scharte, hielt Colbert die Rede seines Lebens: „Das Beste an diesem Mann ist seine Beständigkeit“, sagte er über seinen Präsidenten: „Man weiß, wo er steht. Er glaubt am Mittwoch an die gleichen Dinge wie am Montag – ganz egal, was am Dienstag passiert ist.“

Bush saß kaum drei Meter entfernt auf dem Podium und lächelte. Die anwesenden Pressemenschen warfen sich ungläubige Blicke zu. Colbert legte nach: „Ich glaube, dass die Regierung am besten regiert, die am wenigsten regiert. Gemessen an diesem Standard haben wir im Irak eine fantastische Regierung geschaffen.“

20 Minuten dauerte der Monolog von Colbert, und eigentlich hätte er damit für Aufsehen sorgen sollen. Tatsächlich passierte erst einmal – überhaupt nichts. Obwohl die Rede live im Fernsehen übertragen wurde und alle großen Tageszeitungen, Nachrichtenagenturen, Fernseh- und Radiosender ihre Korrespondenten auf die Party geschickt hatten, war am nächsten Tag von Colberts Rede nichts zu sehen, nichts zu lesen, nichts zu hören. Die US-Medien hatten sich mal wieder selbst zensiert. Nur im Internet war die Hölle los.

Noch am selben Abend stellten Internetnutzer die Rede des Komikers als Videodatei in die Datenbanken von Google-Video und der Videoplattform youtube.com. Blogger fertigten Transkripte an und stellten sie zur Diskussion. Am nächsten Tag konnte man den ersten langen Kommentar im Onlinemagazin Salon.com lesen: „Colbert ist ein Guerillakämpfer. Ein Weltmeister der Ironie.“ Es folgten weitere Texte, noch mehr Videos, Diskussionen und Analysen. Alles im Internet, exklusiv.

Nachrichten gehören schon längst nicht mehr nur den großen Sendern oder Verlagen. Das Web hat sie demokratisiert. „Das sind die Sternstunden des Internets“, sagt der Medienwissenschaftler Christoph Neuberger von der Universität Münster. Mit neuartiger „Social Software“ habe das Netz nach dem Platzen der New-Economy-Blase einen zweiten Schub bekommen. „Social Software“, das sind Blogs, Tauschplattformen für Videos, Musik und Fotos, aber auch Info-Communitys wie die Online-Enzyklopädie Wikipedia – also all das, was das Internet von einem statischen Abruf- zu einem flexiblen Mitmachmedium gemacht hat.

„Mit diesem zweiten Schub entwickelt sich das Netz in eine andere Richtung“, sagt Neuberger. Nicht mehr die Vermarktung steht heute im Vordergrund, sondern „die großen Utopien der 90er-Jahre wie die Demokratisierung des Internets. Das verwirklicht sich jetzt.“

Neuberger ist kein Träumer. Er gehört zu den wenigen Medienwissenschaftlern in Deutschland, die sich seit Jahren mit Journalismus im Internet auseinander setzen und jede Entwicklung akribisch verfolgen.

Auf diese Entwicklung haben offenbar viele Menschen gewartet. Mitmachen, nicht nur konsumieren. Der vitale Umgang mit der Colbert-Rede ist nur ein markantes Beispiel von vielen. Ob Dissidenten in China, Oppositionelle in Weißrussland, im Irak stationierte US-Soldaten oder Augenzeugen des Südostasien-Tsunamis – sie alle nutzen das Internet als Plattform für Meinungen, Nachrichten und Fotos.

Immer wieder finden im Internet auch Ereignisse ihren Niederschlag, die von den traditionellen Medien nicht unterdrückt oder übersehen werden. Wer eine Meinung hat, hat auch die Möglichkeit, sie einem großen Publikum zu unterbreiten. Nichtjournalisten publizieren und werden gelesen.

„Citizen Journalism“, also Bürgerjournalismus, ist im Moment eines der heißesten Schlagworte der Medienbranche, sagte Peter Schink am vergangenen Wochenende auf einem Kongress für Onlinejournalisten in Berlin. Schink ist Projektleiter einer „Citizen Journalism“-Plattform der „Netzeitung“, die unter www.readers-edition.de in dieser Woche online gehen soll. Denn „nicht nur Journalisten können schreiben, sondern auch die Leute da draußen“, sagt Schink und meint Blogger und andere internetaffine Menschen, die künftig die Seiten der „Readers Edition“ füllen sollen – unentgeltlich. Die besten Artikel sollen allerdings in der „Netzeitung“ veröffentlicht und honoriert werden. Schink hofft, dass durch die neuen Bürgerjournalisten Themen ans Licht kommen, die ansonsten für immer unentdeckt geblieben wären: „Wir wollen eine andere Öffentlichkeit, ein demokratisches Web“, sagt Schink: „Das ist auch gut für den Journalismus.“ Dass Zweifel an dieser Prognose berechtigt sind, kann man schon jetzt bei Opinio beobachten. Diese Online-Plattform der Rheinischen Post aus Düsseldorf setzt seit Ende 2003 auf Autoren aus ihrer Leserschaft: „Wer ist denn nun wirklich der knackigste, fescheste Fußballer in diesem unserem Universum, mit dem man so gerne mal Balla spielen würde?“, fragt da zum Beispiel Kiyan in einem Text unter dem Titel „Zidane oder Kahn“.

Zweimal im Monat veröffentlicht die Rheinische Post die besten Beiträge ihrer Opinio-Autoren in einem Printbeileger. Nachrichten, Gedichte, Kurzgeschichten. Kiyan ist 44 und heißt eigentlich Michael Beil. Seit Mai letzten Jahres schreibt er für Opinio. „Das war schon irgendwie ein geiles Gefühl, sich im Internet zu lesen“, sagt Beil über seine erste Veröffentlichung. Offline ist Beil Musiker und arbeitet für ein Marktforschungsunternehmen. „Mein Freund hat mich zum Schreiben gedrängt“, sagt er. Heute gehört Beil zu den „Top fünf“ der meistgelesenen Autoren auf Opinio. Zwei bis drei Texte stellt er pro Woche online. Über Fußball, Sex und Musik. „Für Nachrichten fehlt mir die Zeit und die Lust – das müsste ich ja schließlich gut recherchieren.“

Bürgerjournalismus im Internet ist offenbar ein Missverständnis. Menschen, die gerne Gedichte, Glossen, Geschichten schreiben; politische Internet-User mit eigenen Blogs; hartnäckige Rechercheure mit schlechter Schreibe – das alles findet sich im neuen Mitmach-Internet. Bürgerjournalismus, wie ihn Journalisten wie Peter Schink gerne sehen würden, ist selten. Denn die wenigsten Autoren halten sich an journalistische Standards – wozu auch?

Was zählt, ist Geschwindigkeit, Meinung und – wie bei der Colbert-Rede – das Ausgraben von unbekannten und unterdrückten Nachrichten. „Journalistisches Arbeiten zeichnet sich durch Selektion nach Relevanz und durch Qualitätssicherung aus“, sagt der Medienwissenschaftler Neuberger. Unter diesen Gesichtspunkten ließe sich nur wenig, was derzeit unter der Bezeichnung „Bürgerjournalismus“ läuft, als echter Journalismus bezeichnen.

„Wichtig ist Glaubwürdigkeit und die Einhaltung journalistischer Qualitätskriterien“, sagt Neuberger. „Allerdings muss das nicht unbedingt durch eine Redaktion geschehen. Qualität und Glaubwürdigkeit kann auch durch gegenseitige Kontrolle und Bewertung garantiert werden“, durch genau die Standards also, von denen das Mitmachnetz lebt.

Die Zukunft von klassischem Journalismus und digitalem Bürgerjournalismus sieht Neuberger im Miteinander, nicht im Gegeneinander: „‚Citizen Journalism‘ ist eine gute Ergänzung zur herkömmlichen Berichterstattung – auch wenn es keine friedliche Koexistenz geben wird.“ Der Bürgerjournalismus wacht über die Medien und die Medien greifen auf, was im Netz steht – ob das die Zukunft sein wird? „Readers Edition“-Projektleiter Peter Schink sagt: „Wir probieren das jetzt einfach aus. Es ist ein Experiment.“