Choreografien der Selbstoptimierung

PERFORMANCE Futter für das Denken liefern, das will die Gruppe Oblivia aus Finnland – im Rahmen des Nordwind-Festivals gastiert sie heute und morgen im HAU

■ Nordwind, 2006 in Berlin als biennales Festival gegründet, ist das größte Festival für nordische Künste im deutschsprachigen Raum, es feiert in diesem Jahr sein fünftes Jubiläum und findet erstmalig in drei verschiedenen Städten statt: in Dresden, Hamburg und Berlin. Bis zum 8. Dezember gastiert Nordwind dabei im HAU.

■ „Entertainment Island 1–3“ mit Oblivia ist heute und morgen im HAU 2 zu sehen. 19.30 Uhr, die Aufführung ist in englischer Sprache. nordwind-festival.de

VON ESTHER BOLDT

Es gibt einen Performance-Mainstream im mitteleuropäischen Theaterraum, einen Konsens darüber, was auf der Bühne verhandelt wird und vor allem wie. Alles, was abseits von diesem Mainstream liegt, fällt auf – wie das finnisch-britische Performancekollektiv Oblivia, das sich mit ungeheurer Treffsicherheit stets ein Stück weit neben dem allgemeinen Konsens platziert. Auch wenn die Themen des Performancekollektivs und die assoziierten Diskurse alles andere als abwegig klingen.

Beispielsweise bei „Entertainment Island“, das nun im HAU beim Nordwind-Festival zu sehen ist. Seit 2006 bringt das Festival nordeuropäische Theaterproduktionen nach Deutschland – und damit auch Bühnensprachen, die am mitteleuropäischen Konsens kratzen.

„Entertainment Island“ ist eine Trilogie zur Unterhaltungskultur, die Strategien der Populärkultur in ein bewegungsintensives Spiel aus Anweisungen und Posen, Kommentaren und Fiktionen übersetzt. Auf leerer Bühne, mit reduziertem Licht und ebensolchen Klanglandschaften feuern sich die drei Performer zu Höchstleistungen an: „Oooh yeah! Allright! Wo-hoow!“

Im ersten Teil des Stücks deklinieren sie Strategien von Casting- und Selbsthilfeshows durch, im zweiten zappen sie durch eine Welt der Superlative aus Pappmachee, im dritten versteigen sie sich in private Unterhaltungspraxen und -fantasien von Selbsterniedrigung und Voyeurismus. Beklemmend, aber auch ziemlich komisch wird die Monstrosität der medial verstärkten Selbstentwürfe sichtbar, ihre Durchschlagskraft auf unsere Körper.

Seit 2000 arbeiten die britische Tänzerin Anna Krystek, der schwedische Pianist Timo Fredriksson und die finnische Autorin Annika Tudeer als Oblivia zusammen. Der Name des Kollektivs ist vom englischen „Oblivion“ abgeleitet, „Vergessen“, denn beständig suchen die drei nach neuen Arbeitsweisen. Dabei sind sie programmatische Minimalisten, sie entwenden verschiedenen Kontexten Gesten, Haltungen und Sprachen, kochen sie kräftig ein, übersetzen sie in ihre Körper und in die Spielstruktur des Theaters. Ihre Performances sind ebenso von Xavier Le Roys intelligentem Konzepttanz geprägt wie von Monty Pythons absurdem Witz, britisch-schwarzer Humor trifft auf schräge Figuren, die an Aki Kaurismäkis Filme erinnern.

Präzise getaktet

„Unsere Arbeit ist komponiert aus Körpern, Bewegung, Physikalität und Zeit“, fasst Annika Tudeer zusammen. Und doch ist das Gesamtwerk stets mehr als die Summe seiner Teile. Zeitgenössische Unterhaltungspraxen gehen überraschend nahtlos in moderne Strategien der Selbstoptimierung über: „Wir alle sind Teil einer Welt, in der die Karriere immer mehr im Zentrum steht“, so Tudeer. Aus dem kapitalistischen Originalitäts- und Erfolgsterror machen die drei eine präzis getaktete Beschwörungschoreografie federnder Schritte und hochgereckter Daumen. In diesen Zeitgeist-Kondensaten scheint der ganze Selbst(er)findungsstress auf, dem wir täglich ausgesetzt sind.

Das Kollektiv denkt in großen Bögen. Die „Entertainment Island“-Trilogie entstand über den Zeitraum von drei Jahren, abgeschlossen wurde sie Ende 2010 mit einem mehrtägigen Symposium mit Ausstellung, Buch- und Filmpremiere im Kiasma Theater in Helsinki. Und das 2012 begonnene neue Projekt „Museum of Postmodern Art“ (Mopma) soll fünf Jahre und fünf Performances umfassen. Es schreibt die jüngere Geschichte neu und fragt, was aus dem Postmodernismus geworden ist – und was auf ihn folgen könnte.

Den Kontext für seine Performances schafft sich Oblivia stets selbst, auch Mopma wird abseits der Bühne in anderen Medien und Formen fortgesetzt: Als Fotoausstellung und Blog beispielsweise, in dem Kollegen und Freunde schreibend darüber nachdenken, was aus den Versprechen der Postmoderne geworden ist, und neue -ismen ausrufen. Annika Tudeer nennt das „providing food for thought“: Gedankenfutter bereitstellen.

Intuition und Prozess

Im Probenprozess allerdings verlassen sie sich bei Oblivia auf sich selbst, auf die Erfahrungen, die die Zeit in ihre Körper einschrieb. „Wir haben aufgehört, zu recherchieren“, meint Tudeer. „Es geht mehr darum, sich zu fokussieren und zu konzentrieren, und dann klären sich Dinge.“ Und Anna Krystek beschreibt diese Arbeitsweise als „eine Verbindung aus Intuition und Prozess“.

Die hohe Konzentration wird spürbar auf der Bühne, ein fast altmodisches Ergründen von Zusammenhängen, das sich unterscheidet vom Zusammenfügen von Informationen à la „copy & paste“. Die Resultate dieses Gründelns sind eigenwillig, klug, schmerzlich komisch – und ein Glücksfall für die Theaterwelt.