Abgase tiefer gelegt

Die Industrie hat die CO2-freie Technologie vor allem aus Prestigegründen in die Welt gesetzt

AUS BERLIN NICK REIMER

Diese beiden Zahlen verdeutlichen die ganze Dramatik: Der Stromhunger der Welt wird bis Ende dieses Jahrhunderts um 500 Prozent wachsen. Einerseits. Das hat das Kernforschungszentrum Jülich ermittelt. Andererseits wird der Meeresspiegel weltweit „nur“ um 3 bis 4 Meter ansteigen, wenn es gelingt, die Kohlendioxidverschmutzung der Atmosphäre wenigstens auf dem aktuellen Niveau einzufrieren. Danach sieht es allerdings nicht aus: Dem Kioto-Protokoll zum Trotz emittiert die Welt jedes Jahr 1 bis 2 Prozent mehr Kohlendioxid als im Jahr zuvor. Mit der heutigen Technologie bedeuten 500 Prozent mehr Strom auch 500 Prozent mehr Kohlendioxid – und das, obwohl doch die Welt eigentlich nur zu retten wäre, wenn Ende des Jahrhunderts 80 Prozent weniger Klimakiller produziert würden als derzeit.

Angela Merkel hat gestern einen Grundstein in den Lausitzer Sand gelegt, der manchen viel Hoffnung macht. In Schwarze Pumpe bei Hoyerswerda baut Vattenfall das erste so genannte „CO2-freie Kohlekraftwerk“. Wobei diese Bezeichnung ein bisschen verwirrend ist: Wie bei jedem Verbrennungsprozess entsteht natürlich auch in der 30-Megawatt-Anlage Kohlendioxid. Das Besondere an der 50 Millionen Euro teuren Investition ist aber, dass das CO2 nicht in die Atmosphäre gelangt, sondern unterirdisch verpresst werden soll. Ist das also die viel erhoffte Rettung der Welt?

Oxyfuel heißt das Verfahren, bei dem Braunkohle nicht in Luft, sondern in reinem Sauerstoff verbrannt wird. Auf diese Art wird der Verbrennungsprozess so gesteuert, dass das Klima nicht weiter angegriffen wird. Denn unter Druck verflüssigt, kann man den Klimakiller dann unterirdisch speichern – etwa in ehemaligen Erdgaslagerstätten. 2008 soll die Anlage in Betrieb gehen – als weltweit erstes Demonstrationskraftwerk. Vattenfall-Chef Lars Josefsson sagt: „Wir wollen damit nicht Strom, sondern Erkenntnisse gewinnen.“

Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe schätzt, dass die Erdölvorräte bei gleich bleibendem Verbrauch noch etwa 40 Jahre reichen. Erdgas immerhin reicht nach der Expertenprognose noch 60 Jahre. Kohle dagegen ist noch für mehr als 200 Jahre vorrätig. Das Dumme an Braun- und Steinkohle ist ihre Klimaschädlichkeit: In Kohle ist wesentlich weniger Energie gespeichert als in Erdgas oder Erdöl. Man muss also mehr verbrennen, um die gleiche Energiemenge zu gewinnen – und dabei entsteht eben auch mehr Kohlendioxid.

Unter den großen Stromkonzernen gibt es deshalb weltweit einen Wettlauf um die CO2-freie Technik. „Wir streben an, 2014 ein CO2-freies Kraftwerk mit einer Leistung von 400 Megawatt in Betrieb nehmen zu können“, erklärte gerade RWE-Chef Harry Roels. RWE ist hinter Vattenfall der zweitgrößte Kohleverstromer Mitteleuropas. Auch die Düsseldorfer Eon AG will ein stillgelegtes Gaskraftwerk im britischen Lincolnshire auf Kohleverstromung umrüsten – und zwar so, dass das Kohlendioxid vollständig abgetrennt wird. In Norwegen gibt es bereits Gaskraftwerke, bei denen Kohlendioxid abgeschieden und in der Nordsee verpresst wird.

Mit dabei im Wettlauf um die CO2-freie Technik ist zum Beispiel auch George W. Bush. Der US-Präsident hat eine Milliarde Euro für das Projekt „FutureGen“ ausgelobt – eine Milliarde steuert die US-Industrie bei. Seit 2003 forscht man an den Universitäten der alten Kohle- und Stahlmetropole Pittsburgh und des Kohlestaats West Virginia in Morgantown an verschiedenen Techniken. Bushs Vorgaben sind sehr ehrgeizig: Erstens soll 2012 ein kommerziell einsetzbares 275-Megawatt-Kraftwerk am Netz sein. Zweitens dürfen die Kosten des CO2-freien Verfahrens nicht über 10 Prozent der herkömmlichen Kohleverstromung liegen. Die US-Forscher sagen, sie lägen im Zeitplan.

In der Lausitz rechnet Vattenfall beim Oxyfuel-Verfahren mit 15 bis 20 Euro Kosten pro Tonne Kohlendioxid. Was für Vattenfall-Chef Josefsson nach einem guten Geschäft klingt: Er erwartet, dass die CO2-Emissionszertifikate weiter deutlich ansteigen. Josefsson: „Ab einem Preis von 20 Euro pro Tonne ausgeschiedenem CO2 lohnt sich der Einsatz für die Industrie“. Unabhängige Studien – etwa vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie – kommen für die gleiche Technik aber auf Kosten von 30 bis 40 Euro je Tonne. Die Abtrennung ist jedoch in der ganzen Prozesskette des „CO2-freien“ Kraftwerks nur einer von mehreren Kostenfaktoren. Schließlich muss das Kohlendioxid auch komprimiert, transportiert und anschließend verpresst werden – was jeweils weitere Kosten verursacht. Das europäische Forschungsprojekt Gestco – in Deutschland ist daran die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe beteiligt – kommt auf durchschnittlich 54 Euro je Tonne. Damit ist die Tonne abgeschiedenes Kohlendioxid momentan fünfmal teurer, als sie an der Klimabörse gehandelt wird. Wirtschaftlich macht die CO2-Abscheidung à la Vattenfall keinen Sinn.

Zwar lobte Angela Merkel bei der Grundsteinlegung gestern Vattenfall. Tatsächlich aber wirft das Projekt in Schwarze Pumpe viele Fragen auf. Wo zum Beispiel soll ab 2008 das abgeschiedene CO2 gelagert werden?

Vattenfall selbst favorisiert einen ehemaligen Gasspeicher bei Ketzin im Havelland. Allerdings muss das Potsdamer Geoforschungszentrum erst noch untersuchen, ob die Lagerstätte tatsächlich dicht ist. Würde CO2 entweichen, käme es zu dem Garageneffekt, den schon mancher „Schrauber“ mit dem Leben bezahlte: Kohlendioxid ist schwerer als Luft. Wer in der Garage eine Zeit lang bei laufendem Motor und geschlossenem Tor arbeitet, stirbt – genau wie jemand, der zufällig an Speicherlecks der unterirdischen CO2-Kavernen vorbeiwandert. Völlig ungeklärt ist, wer in einem solchen Fall haften würde.

Kritiker rechnen vor, dass es in Deutschland Speicherkapazitäten für maximal nur 1,2 Milliarden Tonnen CO2 gibt. Derzeit entstehen bei der Stromproduktion 400 Millionen Tonnen Kohlendioxid jährlich – die Lagerkapazitäten wären binnen 3 Jahren erschöpft.

Da ist nicht die einzige Kritik: „Die Herstellung des reinen Sauerstoffs und die anschließende CO2-Verflüssigung verschlingen sehr viel Energie“, sagt etwa Matthias Seiche, Klimaexperte des Bundes für Umwelt und Naturschutz. Dadurch würde der ohnehin schlechte Wirkungsgrad eines Braunkohlekraftwerks weiter sinken – beispielsweise von 43 auf nur noch 35 Prozent, was kontraproduktiv für den Klimaschutz sei. Zudem stünde die Technologie erst 2020 großindustriell zur Verfügung. Seiche: „Allein in den nächsten 5 Jahren aber sollen 10 Kohlegroßkraftwerke neu gebaut werden – natürlich mit alter Technik.“

Dies veranlasst Hans-Jürgen Nantke, Chef der deutschen Emissionshandelsstelle, zur Bezeichnung „Placebos“: „Die Industrie hat das Thema vor allem aus Prestigegründen in die Welt gesetzt“. Gerhard Timm, BUND-Bundesgeschäftsführer, argumentiert noch drastischer: „Vattenfall erzeugt seinen Strom zu 99 Prozent aus fossilen Rohstoffen und aus Uran. Vattenfall torpediert den Klimaschutz. Vattenfall betreibt gefährliche Atommeiler. Vattenfall zerstört Naturoasen wie die Lakomaer Teiche bei Cottbus. Und jetzt will uns Vattenfall mit seiner Minipilotanlage direkt neben der riesigen CO2-Schleuder Schwarze Pumpe erklären, nachhaltig und umweltfreundlich zu sein?“

Angetreten zur Rettung der Welt, stand am Ende des Tages nicht nur Vattenfall am Pranger, sondern auch die Kanzlerin. Angela Merkel hatte Vattenfalls Braunkohlekraftwerke in Ostdeutschland als „die saubersten der Welt“ bezeichnet. „Das ist schlichtweg falsch“, ärgert sich die Brandenburger Grünen-Abgeordneten Cornelia Behm: „Sie gehören im Gegenteil zu den größten CO2-Verschmutzern Europas.“ Behms Empfehlung: „Wirtschaftlich sinnvoll ist nur die langfristige Umstellung auf erneuerbare Energien.“

Mitarbeit: Bernward Janzing