Verhandlungsweg gesucht

AFGHANISTAN Ab heute beraten in Kabul 1.600 handverlesene Afghanen und Afghaninnen über das Ob und Wie von Friedensverhandlungen mit den Taliban – ohne die Opposition

Frauenrechtlerin: „Laute“ Frauen wurden durch regierungskonforme ersetzt

VON THOMAS RUTTIG

Zum dritten Mal sind hunderte Delegierte nach Kabul gereist, um wie 2002 und 2003 im großen Zelt der Loja Dschirga („Große Ratsversammlung“) Fragen nationaler Tragweite zu beraten: den „Afghanischen Friedens- und Versöhnungsplan“ von Präsident Hamid Karsai. Im Klartext geht es bei der Nationalen Konsultativen Friedensdschirga“, so der offizielle Name, ob und wenn ja wie mit den Taliban über ein Ende des bewaffneten Konflikts geredet werden soll.

1.600 Teilnehmer aus allen Landesteilen werden erwartet: alle Parlamentsabgeordneten und Provinzgouverneure, der Rat der Geistlichen, Vertreter von Flüchtlingen, Nomaden und Zivilgesellschaft sowie einflussreiche Älteste der fast 400 Distrikte, dazu Minister und Oberste Richter. Offiziell sind drei Tage geplant, aber solche Treffen enden traditionell erst bei einem Konsens. Es herrschen scharfe Sicherheitsvorkehrungen.

Anfangs wurde spekuliert, dass auch die Taliban und andere bewaffnete Regierungsgegner eingeladen seien. Zuletzt hieß es nur noch vage, ihnen stünden „die Türen offen“. Doch ist nicht zu erwarten, dass Emissäre von Talibanchef Mullah Omar auftauchen werden. Sie riskierten, statt zu Gesprächen in den Knast zu kommen. Karsai will jetzt erst einen breiten Konsens erreichen, mit welchen Gruppen verhandelt und wie dann vorgegangen werden soll.

Seine Führung überlässt dabei kaum etwas dem Zufall. Die Delegierten aus den Provinzen wurden von den Gouverneuren handverlesen, die Karsai beruft und auch ablösen kann. Teilnehmer sprechen von einem intensiven „Durchleuchtungs- und Testprozess“ sowohl für sie wie auch für die Moderatoren der 28 Arbeitsgruppen. Das letzte Wort, zitiert Analystin Kate Clark einen afghanischen Insider, haben Dschirga-Cheforganisator und Bildungsminister Faruq Wardak sowie Karsai selbst. An der Spitze vieler Provinzdelegationen stehen deshalb dieselben Leute, die 2009 dort schon Karsais Präsidentschaftswahlbetrug organisierten. Für die Öffentlichkeit waren bis gestern die genaue Teilnehmerliste und Tagesordnung geheim. Eine afghanische Frauenrechtlerin, die sich inzwischen von der Veranstaltung zurückzog, namentlich aber nicht genannt werden will, nennt die Agenda sogar „anrüchig“.

Gleichzeitig kommen Stimmen aus den Provinzen, dass unliebsame Delegierte von der Teilnahme gestrichen wurden. Die Frauenrechtlerin und frühere Wahlkommissarin Naila Ajubi aus Kabul sagte der taz, dass „alle ‚lauten‘ Frauen wieder ausgeladen“ und durch regierungskonforme ersetzt wurden. Einige wollen sich ihre Teilnahmerecht zurückholen, andere boykottieren. 40 der geladenen 343 Frauen würden fehlen. Auch Karsais wichtigster Gegner bei der Wahl 2009, Exaußenminister Abdullah Abdullah, und seine Anhänger boykottieren die Dschirga.

Auffällig ist die starke Präsenz von islamistischen Mudschaheddin-Parteien wie Hisb-i-Islami und Harakat. Beide sind gespalten, mit je einem Flügel in der Regierung und einem in den Bergen. Die meisten Harakat-Mitglieder hatten sich Mitte der 1990er-Jahre den Taliban angeschlossen. Wardak selbst war früher Hisb-i-Islami-Mitglied.

Karsais Gesprächsangebote an die Taliban waren lange von der US-Haltung blockiert worden, nicht mit „Terroristen“ reden zu wollen. Doch auf der Afghanistan-Konferenz in London im Januar und bei seinem jüngsten Besuch in Washington – die Dschirga war extra noch einmal verschoben worden – bekam Karsai grünes Licht. Das Resultat ist sein Versöhnungsplan. Der enthält aber mehr technische Details als konkrete Strategien. Zahlreiche neue Behörden sollen geschaffen – und bezahlt – werden. Das wirkt wie ein riesiger Projektantrag, und Hilfsgelder versickern in Afghanistan nur zu oft in Schlamm der Korruption.

Vor allem Frauen- und Menschenrechtlerinnen fürchten, dass Karsai und seine Leute sich kopfüber in einen Deal mit den Taliban stürzen könnten und dabei wesentliche der seit 2001 errungenen Rechte und Freiheiten über Bord gehen. Besorgt bloggen sie, Wardak habe gesagt, dass „Gerechtigkeit und Menschenrechte nicht auf der Agenda dieser Dschirga“ stünden.

Der Enthusiasmus, den etwa der Nato-Chefdiplomat in Kabul, Mark Sedwill, für die Friedensdschirga zeigt, lässt eher Besorgnis aufkommen. Viele westliche Regierungen sehen die Dschirga als Schritt ihrer Exitstrategie aus dem Schlamassel, das sie in Afghanistan mit angerichtet haben: Koste es, was es wolle.

Meinung + Diskussion SEITE 12