„H & M enteignen?“ – „Gerne!“

Alle reden über Lucy Redler, 26, die Berliner WASG-Rebellin. Kein Wunder: Sie ist jung. Sie sieht gut aus. Sie legt sich an mit Lafontaine und Gysi. Aber wofür kämpft sie? Ein Gespräch über das Leben in Deutschland am Tag nach der Revolution

INTERVIEW ASTRID GEISLER
UND STEFAN KUZMANY

taz: Frau Redler, ist die taz eigentlich links?

Lucy Redler: Da sind wir schon bei der Frage: Was ist links? Ich glaube, dass wir weiterhin in einer Klassengesellschaft leben. Dass es die Klasse der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen auf der einen Seite gibt und auf der anderen Seite die Klasse derer, die die großen Profite einstreichen. Links bedeutet heute deshalb in erster Linie, sich in diesem Konflikt zu positionieren.

Und was heißt das für unsere Zeitung?

Ich nehme die taz heute nicht als Organ der Widerstandsbewegung wahr. Ich habe den Eindruck, dass die taz der Gründung der neuen Linken zwar mit großem Interesse begegnet, aber dem Projekt eher distanziert gegenübersteht. Und teilweise auch mit einem Schuss Zynismus.

Also eher neoliberal?

Naja, ich glaube, dass es zwischen links und neoliberal eine große Spannweite gibt. Neoliberal sind Zeitungen wie die FAZ. Ich würde die taz nicht als neoliberale Zeitung bezeichnen.

Da sind wir aber froh. Wo würden Sie sich selbst verorten: Sind Sie linksradikal?

Ich halte nicht viel von solchen Schemata. Aber wenn die Unterstützung von Massenstreiks radikal ist, wenn es radikal ist, zu sagen, ich bin dafür, dass es politische Generalstreiks gegen Sozialabbau in Deutschland gibt, dann bin ich gerne radikal. Ich verstehe mich als Sozialistin. Ich glaube, dass es die Aufgabe der Linken ist, jetzt alle Menschen zu sammeln, die gegen die herrschende Politik sind, also gegen die Politik des kapitalistischen Sachzwangs. Ich glaube, dass man diesen Sachzwängen langfristig nur standhalten kann, wenn man eine sozialistische Perspektive hat.

Wohin führt das? Wie würde es hier am Tag eins danach aussehen?

Am Tag nach was?

Nach der Revolution.

Da ist einen Tag danach noch nicht so viel passiert.

Okay. Sie haben mehr Zeit.

Ich stelle mir eine Gesellschaft vor, die nichts zu tun hat mit dem, was es in der Sowjetunion und der DDR gegeben hat, mit dem also, was ich als Stalinismus bezeichnen würde. Ich stelle mir eine Gesellschaft vor, die frei ist von Armut, von Arbeitslosigkeit, von Rassismus, frei von den ganzen Spaltungsmechanismen, die es im Kapitalismus gibt.

Prima. Aber wie dürfen wir uns das konkret vorstellen? Angenommen, ich kaufe mir morgen eine neue Hose. Ich gehe zu H & M, weil sie da billig ist. Sie ist möglicherweise nicht besonders fair hergestellt, ich kann mir aber keine teurere leisten, weil ich bei der taz nicht so viel verdiene. Wo kaufe ich denn im Sozialismus meine neue Hose?

Wahrscheinlich hätte die taz viel mehr Mitarbeiter, Sie beide hätten eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, wären gut gelaunte Kollegen und würden in einem Kleidungsgeschäft bei gut gelaunten Verkäuferinnen einkaufen, weil diese Verkäuferinnen deutlich weniger in der Woche arbeiten, einen besseren Lohn bekommen, genaue Einsicht darin haben, wie der Betrieb läuft, und mitbestimmen können.

Und der höhere Lohn, die kürzere Arbeitszeit, die zur allgemeinen guten Laune führen, woher kommen die?

Es wird einfach nicht mehr die Situation geben, dass die Arbeiter und Angestellten nur einen Bruchteil von dem bekommen, was sie eigentlich erwirtschaften – und den Rest steckt sich entweder irgendeine Aktiengesellschaft oder ein Unternehmer in die Tasche.

Heißt der Laden dann noch H & M?

Das weiß ich nicht.

Das würden wir aber schon gerne wissen, wenn wir Sie wählen sollen.

Also, erst mal ist die WASG Berlin keine sozialistische Vereinigung. Selbst wenn ich am 18. September ins Abgeordnetenhaus komme, werde ich H & M deshalb nicht vergesellschaften können. Leider. Würde ich gerne.

Gut, H & M wird also nicht sofort enteignet. Aber vielleicht später?

Wollen Sie darauf jetzt ernsthaft eine Antwort von mir?

Klar.

Ich glaube, dass es schon darum geht, mindestens die Schlüsselindustrien zu vergesellschaften und sie unter demokratische Kontrolle zu stellen. Es geht nicht darum, ein kleines Stück vom Kuchen zu bekommen, sondern es geht darum zu entscheiden, mit welchen Zutaten wird der Kuchen hergestellt, wo wird er verkauft, zu welchem Preis, und ist er gesundheitsfördernd.

Dann werden wir also nicht mehr bei McDonald’s essen?

Ich glaube, dass es in einer sozialistischen Gesellschaft so viele hervorragende, preisgünstige Restaurants geben würde, wo das Essen total gesundheitsfördernd ist, dass die Menschen nicht mehr so wild darauf wären, zu McDonald’s zu gehen. Ich verstehe Sozialismus nicht als Zwang oder als Einschränkung, wo es nur eine Produktpalette gibt, wo alles total grau aussieht und nicht schmeckt. Ich verstehe Sozialismus als Bereicherung.

Die Leute entscheiden doch heute schon selbst.

Als Konsumenten.

Aber keiner muss zu McDonald’s gehen.

Wenn alle entscheiden könnten, dann würden alle schön bei Bio-Geschäften einkaufen. Die meisten Leute mit Hartz IV oder einem Durchschnittslohn haben dazu überhaupt nicht die Möglichkeit. Sie haben nur die Wahl zwischen Aldi und Lidl.

Was wird aus den Menschen, die keine Arbeitszeitverkürzung wollen, sondern möglichst viel arbeiten und Geld anhäufen? Die haben in der heutigen Gesellschaft alle Freiheiten, aber in der sozialistischen wohl nicht mehr.

Ich glaube, dass die meisten Menschen heute gar nicht die Freiheit haben, so viel zu arbeiten, wie sie wollen. Massenarbeitslosigkeit ist doch heute die Realität.

Aber es gibt auch Karrieristen.

Zahlreiche Leute sind gezwungen, Überstunden zu machen – das ist ja das Perverse im Kapitalismus.

Uns interessiert aber immer noch: Was passiert mit karrieregeilen Individualisten in der sozialistischen Gesellschaft?

Der kann ruhig machen, was er will. Ich glaube aber, dass es heute weniger als zwei Prozent der Menschen sind, die die Möglichkeit haben, sich so frei zu entwickeln.

Wenn wir hier aus dem Fenster sehen, die Rudi-Dutschke-Straße runter, dann sehen Sie das Hochhaus des Springer-Verlages. Gäbe es denn die Bild -Zeitung noch im Sozialismus?

Die Bild-Zeitung? Naja …

Wir verstehen schon, Sie können nicht richtig antworten auf diese Frage. Wenn Sie jetzt sagen: Klar, Springer wird enteignet! Was dann morgen in der Zeitung stünde, über Ihre höchst radikalen Ansichten …

Ich sage nicht, dass die Bild-Zeitung abgeschafft wird. Ich glaube aber, wenn sich die Situation so weit geändert hat, dass eine Mehrheit der Bevölkerung sagt, wir wollen mit diesem Profit-Prinzip brechen, wir wollen selber schreiben, wie wir leben wollen und wo wir einkaufen. Wir wollen eine stärkere Kontrolle. Dann halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass die Bild-Zeitung noch einen großen Leserstamm hätte und ihre Verlagsräume finanzieren könnte. Die Nachfrage nach halbnackten Frauen auf der Seite eins und reißerischen Artikeln in der gesamten Zeitung wäre einfach zu gering.

Sie glauben wirklich, dass der Bauarbeiter dann lieber die sozialistische Parteizeitung liest und sich über die neuesten Errungenschaften des Betriebsratswesens informiert, als dass er sich die Nackte auf der Eins anschaut?

Ich glaube, das ist ein bisschen zu simpel, wenn man sagt: Der Arbeiter ist so einfach gestrickt, deshalb liest er die Bild. Mir geht es nicht darum, irgendwelche Zeitungen zu verbieten. Das Einzige, was ich verbieten würde, wären faschistische Organisationen. Alle bürgerlichen Blätter können gern weiterhin schreiben, was sie wollen.

Und Lucy Redler, was macht die in dieser näheren oder ferneren sozialistischen Zukunft?

Ich kann nur hoffen, dass ich die erleben werde.

Zweifeln Sie daran?

Mein Eindruck ist, dass sich gerade ein antikapitalistisches Bewusstsein entwickelt. Das ist aber noch weit entfernt von einem sozialistischen Bewusstsein. Das ist mir völlig klar.

Also, wir bekommen da bisher nicht viel von mit. Die Leute machen sich doch eher Gedanken darüber, welchen DVD-Player sie kaufen sollen, als über die Revolution.

Ich glaube nicht, dass sich die meisten Leute Gedanken darüber machen, welchen DVD-Player sie sich kaufen sollen. Das war vielleicht vor fünf Jahren so, als es allen ein bisschen besser ging. Heute sind die Leute damit beschäftigt, alleine gegen ihr Schicksal zu kämpfen. Wenn ich hier vor dem Job-Center mit den Leuten über die WASG diskutieren will, dann sagen viele: Ich kann mich nicht politisch engagieren. Ich muss erst mal einen Job finden.

Liegt diese Resignation auch daran, dass Gewerkschaftsführer und Politiker unglaubwürdig sind?

Ich denke, ein großes Problem ist, wie viel die verdienen. Viele von denen sind doch mit ihrem Verdienst näher an der Manageretage dran als an den Beschäftigten, die sie vertreten sollen. Deshalb sollten auch Politiker, die im Bundestag sitzen, nicht mehr verdienen als ein normaler Facharbeiter. Übrigens auch Fraktionsvorsitzende.

Fraktionschef Lafontaine mit Facharbeitergehalt?

Genau. Das ist meine Überzeugung.

Wollen Sie den armen Mann in den Ruin treiben?

Ich glaube nicht, dass man in den Ruin getrieben wird, wenn man 3.000 Euro brutto verdient. Im WASG-Länderrat wurde die Forderung nach Gehaltsverzicht auch schon diskutiert.

Mit welchem Ergebnis?

Leute aus der WASG-Spitze haben dann gesagt: Das können wir doch nicht machen, sonst laufen doch die Abgeordneten zur Linkspartei über, weil sie dort nur 870 Euro statt 1.500 Euro abtreten müssen!

Im Ernst?

Wenn ich so etwas höre, frage ich mich schon: Von was für einer Partei reden die eigentlich?