Entspannung, Stück für Stück

HOBBY Die Hamburgerin Grete Schulga hat umgesattelt: Statt Hörbüchern wie früher verkauft sie in ihrem Laden mittlerweile hauptsächlich Puzzles aller Art und Formen. Mit großem Erfolg. Ausgerechnet die schwierigsten Exemplare sind bei ihren Kunden am beliebtesten

VON AMADEUS ULRICH

Das Alstertal-Einkaufszentrum im Hamburger Norden ist voller Menschen, die mit prallen Tüten durch die grell erleuchteten Gänge preschen. Es ist ein Gewusel und Gewühle; vor dem Puzzle-Geschäft aber halten manche kurz inne, blicken ins Schaufenster. Dort stehen große Exemplare aus Holz, ein Laubwald im Herbst, eine Kapelle im Schneegestöber, Elefanten in der Savanne.

Jene, die den Laden betreten, bleiben meist für einen Moment; knobeln, puzzeln und lachen lauthals, wenn die Teile nicht passen. „Man ist hier wie im Kinderland“, sagt eine Frau Mitte 40, die mit ihrem Mann hier ist. Der schaut ein bisschen skeptisch und möchte auch ungern die Frage beantworten, was er denn in einem Puzzle-Laden macht. Seine Frau aber stöbert herum, probiert alles aus. „Klar puzzelt man heut’ noch!“ sagt sie.

Der Laden heißt „Litraton“, was ausbuchstabiert „Literatur auf Tonträgern“ bedeutet, das ursprüngliche Kernangebot. Heute stapeln sich in dem Geschäft Puzzles bis zur Decke: etwa 3.000 Motive, 60 verschiedene Arten. Die Besitzerin ist Grete Schulga, 63. An einem Abend sitzt sie in einem Lagerraum, vor ihr ein Glastisch, durch dessen Platte man von oben auf ein Puzzle blickt. Um sie herum: hunderte Kartons, kleine, große, eckige, mit diversen Motiven, hinten steht als 3-D-Puzzle der Eiffelturm. Inzwischen hat Schulga seit etwas mehr als zwei Jahren ihr Geschäft im Alstertal-Einkaufszentrum, das, wie sie sagt, „brummt“ – besonders im Winter.

Alles begann mit einer Frage. „Gibt es eigentlich spannendere Puzzles?“, fragte eines Abends ihre Mutter, die seit Jahren puzzelte, aber der Sonnenuntergangs-Motive allmählich überdrüssig war. Grete Schulga recherchierte im Internet und entdeckte: Puzzles aus Holz, in England produziert, mit arg ungleichen Teilen, individuellen Motiven und Figuren. Anker, Möwen, Taucher. „Die stellen alles auf den Kopf, was man an inneren Hilfen hat“, sagt Schulga. Jemand, der viel Standard kenne, werde neu gefordert – ideal für ihre Mutter. Also bestellte sie ihr ein paar Exemplare, die restlichen legte sie in ihr Hamburger Hörbuch-Geschäft. Als Experiment.

In Nullkommanichts waren die Puzzles ausverkauft. So begann sie, weitere zu importieren, änderte ihr Sortiment: von Tonträgern zu Puzzles. Ein mutiger Schritt, denn erstens beherrscht Ravensburger mehr als 80 Prozent des Marktes. Zweitens: Wer hat in dieser schnelllebigen Zeit von smarten Telefonen, Fast-Food und Burnout überhaupt die Muße, sich zu setzen, um klitzekleine Pappteilchen ineinanderzustecken, stundenlang und länger? Puzzeln, ist das nicht von gestern und höchstens für Kinder interessant – und somit als Erwachsenen-Geschäftsmodell untauglich?

„Alle Generationen puzzeln noch“, sagt Schulga. „Das Alter meiner Kunden reicht von sechs bis 96 Jahre.“ Sie hätte nicht erwartet, dass dieses Geduldspiel derart beliebt sei. Aber warum ist das so? „In unserer hektischen Zeit erdet es uns“, sagt Schulga. „Wenn Sie ein paar Stunden sinnbefreit auf diese Teilchen starren, dann vergessen Sie alles um sich herum – und kommen auf eine Nulllinie.“ Die Menschen seien heute reizüberflutet, starrten wie hypnotisiert auf ihr Handy und jeder glaube, permanent erreichbar sein zu müssen. „Das kann unser kleines Gehirn nicht verarbeiten. Puzzeln gibt einem Struktur.“

Die englischen Holzpuzzles versenden nur zwei weitere Betreiber in Deutschland – in Schulgas Laden befindet sich das größte Angebot. Es sind Unikate, die auf einer alten Tradition beruhen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen die Engländer, Holz zu zersägen, um es anschließend wieder zusammenzusetzen. Anfangs waren es meist Landkarten, aufgeteilt in Grafschaften; später sägten sie Figuren heraus, Flaschen oder ein Weinglas. „Seit etwa 15 Jahren sind die Engländer dabei, das wiederzubeleben“, erklärt Schulga. Die Holz-Puzzles seien um einiges komplexer als herkömmliche; man brauche etwa dreimal so lang. Es gibt Teile, die zwar gerade Kanten haben – aber nicht an den Rand gehören.

„Puzzler sind Masochisten“, sagt Schulga. „Die quälen sich gerne.“ Um abschalten zu können, müsse es lange dauern. Es gebe sogar Puzzles, die so schwer seien, dass die Inhaberin von ihnen abrate. Etwa eine Weltkarte, die nur aus winzigen Fotos besteht. Aber gerade die Sachen, vor denen man die Kunden warne, seien die meist verkauften.

Eine recht unbekannte Variante sind sogenannte Wasgijs, eine aus den Niederlanden stammenden Serie. Normalerweise puzzelt man ein Motiv nach, das vorne auf dem Karton abgebildet ist; anders bei Wasgijs. Man hat als Vorlage lediglich eine Szene, aus der hervorgeht, dass gleich irgendetwas passieren wird. Eines der Motive ist ein Restaurant, in dem eine korpulente Kellnerin mit vielen Tellern in der Hand eine Treppe hinunterstürmt. Ein Junge wirft in diesem Moment angewidert einen Rosenkohl fort, über den die Kellnerin, so viel ist gewiss, stolpern wird. Das, was man puzzeln muss, ist die Zukunft, in diesem Fall: Chaos. „Da wir alle neugierig sind“, sagt Schulga, „ist das unser bestverkauftes Papp-Produkt.“

Es gibt keine Studien zu der Frage, wie viele Menschen in Deutschland puzzeln. Das liege daran, vermutet Schulga, dass Puzzeln ein „tutiges“ Image habe, ja als sonderliche Sucht gelte, zu der man sich daher ungern bekenne. Doch das ändere sich gerade. Im März nächsten Jahres möchte Schulga einen zweiten Laden in Berlin eröffnen.

Ihre Haupt-Puzzle-Testerin ist übrigens ihre 82-jährige Mutter, die damals, vor der Geschäftsidee, nach spannenderen Varianten des Geduldsspiels fragte. Nun sei sie stets beschäftigt, erzählt Grete Schulga – und geistig topfit.