Kleine Küche, großer Anspruch

WOHNUNGSBAU Fast wäre die Reichsforschungssiedlung in Haselhorst in Vergessenheit geraten. Nun hat die Gewobag die letzte und größte Siedlung der Weimarer Republik saniert. Ihre Geschichte hat Michael Bienert in einem lesenswerten Buch aufgeschrieben

„Der Arbeiteranteil war in Haselhorst vergleichsweise hoch“

MICHAEL BIENERT, AUTOR

VON UWE RADA

Trotz vieler Anstrengungen ist es nicht gelungen, den Wohnungsmangel einzudämmen. „Den objektiven Fehlbedarf schätze ich auf 200.000 Wohnungen“, heißt es aus dem Roten Rathaus. Jährlich müssten mindestens 70.000 Wohnungen gebaut werden.

Doch hilft das auch den Geringverdienern? Die Mieten im Neubau, kommentiert die Tagespresse, seien unerschwinglich. Den Grund nennt eine Abgeordnete des deutschen Parlaments. „Die üblichen Baukosten“, sagt sie, „sind viel zu hoch.“

Nein, das ist nicht das tagtägliche Wehklagen über Wohnungsmangel und Mietenexplosion im Hier und Jetzt, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme aus dem Berlin zu Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929. Der Stadtbaurat, der den Neubau noch weiter ankurbeln wollte, war Martin Wagner, jener Mann der Moderne, der auch den Entwurf für den Umbau des Alexanderplatzes vorgelegt hatte.

Die Abgeordnete aus dem Reichstag, die die Baukosten radikal senken wollte, gehörte den Liberalen an. Es war Marie Elisabeth Lüders, nach der heute ein Gebäude des Deutschen Bundestags benannt ist. Und das gemeinsame Projekt, das sie aus der Taufe heben wollten, nannten sie „Reichsforschungssiedlung“. In dieser größten und letzten Siedlung der Weimarer Republik sollte auch in der Praxis der Beweis erbracht werden, dass günstiges Bauen für breite Bevölkerungsschichten möglich ist. Nun hat die Gewobag, schon damals Bauherrin der Siedlung, die knapp 3.000 Wohnungen in Haselhorst saniert.

Reichsforschungssiedlung, das klingt nach Reichssportfeld oder Reichsstraße, nach Nazi-Größenwahn. „Tatsächlich aber war es ein fortschrittliches Projekt“, sagt Michael Bienert, der in Haselhorst Stadtführungen anbietet und nun ein Buch über die Geschichte der Siedlung und die Sanierung geschrieben hat. Der heute seltsam klingende Name geht zurück auf die „Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen“, einer Denkfabrik der Wohnungsreformer in der Weimarer Republik. „Die Reichsforschungssiedlung“, ist Bienert überzeugt, „war ein Stück gebaute Utopie, getragen von progressiven Politikern, Architekten und Vertretern der Bauwirtschaft.“

Von der Küche zur Fassade

Bei seiner einjährigen Recherche hat Bienert auch ein Pamphlet des Architekten Paul Mebes gefunden: „Die große Wohnküche wird noch lange ihre Herrschaft behaupten; eine ideale Lösung ist sie nicht“, schreibt er in einem Text mit dem Titel „Gedanken zur Küchengestaltung“. „Die richtige Lösung ist zweifellos die Kleinst-Küche, die durch eine Schiebeglastür direkt mit dem Wohnraum verbunden ist und doch vorübergehend, je nach Bedarf, geruchsicher abgeschlossen werden kann.“

Paul Mebes war einer der Architekten der Reichsforschungssiedlung – und seine Küchenüberlegungen sind für Michael Bienert eine hübsche Anekdote für den bis dahin größten Praxistest im Berliner Wohnungsbau. „Mebes hat die Siedlung von der Küche her gedacht. Erst die Küche, dann die Wohnung, dann die Fassade. Das ist eine radikale Weiterentwicklung der modernen Architektur.“

Und es war eine Kampfansage an die bisherigen Siedlungen der Moderne, an die Hufeisensiedlung oder die Weiße Stadt in Reinickendorf, die inzwischen als Welterbe der Unesco den Ritterschlag bekommen haben. „Die hatten eher den Mittelstand im Blick als die Arbeiterschaft“, so Bienert. „In Haselhorst aber ging es darum, die Kosten zu senken und auch stärker auf serielles Bauen zu setzen.“

Das sieht man der Siedlung bis heute an. Wer vom U-Bahnhof Haselhorst Richtung Gartenfelder Straße geht, sieht vor sich schmucklose Zeilenbauten, die sich nur wenig vom Wohnungsbau der fünfziger Jahre unterscheiden, der die Reichsforschungssiedlung inzwischen umgibt.

Luxus war es also nicht, der da im Auftrag, möglichst billig zu bauen, entstand. Das zeigt auch die kleine Museumswohnung, die die Gewobag derzeit am Burscheider Weg einrichtet. Nicht nur die „Kleinst-Küche“ war winzig klein, sondern auch Wohnraum und Schlafzimmer. „Die meisten Wohnungen waren Zwei- oder Zweieinhalbzimmerwohnungen mit einer Fläche von 42 bis 49 Quadratmetern“, sagt Michael Bienert.

Aber ihren Zweck haben sie erfüllt. In den Archiven der Gewobag stieß Bienert auf einen Geschäftsbericht aus dem Jahr 1932. Demzufolge betrug der Anteil der Arbeiter in den bis dahin 2.472 fertiggestellten Wohnungen 36,9 Prozent. Die Angestellten machten mit 42 Prozent den größten Teil der Bewohnerschaft aus, es folgten Beamte mit 7,7 und Pensionäre mit 4,3 Prozent. „Der Arbeiteranteil ist im Vergleich mit den anderen Siedlungen der Weimarer Zeit sehr hoch“, sagt Bienert. „Die meisten von ihnen arbeiteten bei Siemens in der Siemensstadt.“

Dass die Gewobag in Haselhorst zum Zuge kam, war ein Zufall. Die von Marie Elisabeth Lüders mitbegründete Reichsforschungsgesellschaft war ein Verein – und fiel somit als Bauherr aus. Die Gagfah wiederum, eine der größten Wohnungsbaugesellschaften der Weimarer Republik, wollte nicht. So wurde eine Tochtergesellschaft der Gagfah beauftragt, die Heimag, die kurz darauf in Gewobag umbenannt wurde. Haselhorst ist damit der Gründungsort der Gewobag, die heute eine der sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften in Berlin ist.

„Es ist allerdings schwierig, die Baugeschichte lückenlos zu dokumentieren“, sagt Bienert. „Die meisten Akten sind im Krieg verbrannt.“ Ähnlich unvollständig ist das Schicksal der Siedlung nach der Machtübernahme durch die Nazis 1933 dokumentiert. Bekannt ist, dass die beiden Gewobag-Vorstände Hermann Meyer und Franz Czeminski durch die Nationalsozialisten Adelbert Pfeil und Hans Kammler ersetzt wurden. Czeminski, ein Sozialdemokrat, wurde am 13. April 1933 ins KZ Papestraße verschleppt und dort schwer misshandelt.

Vorstand Curt Gorgas aber blieb bis 1934 im Amt und wechselte dann in den Aufsichtsrat. „Bei den Recherchen hat sich herausgestellt, dass Gorgas Mitglied der SS war“, sagt Bienert. „Mehr wissen wir aber noch nicht über ihn.“ Nötig wäre es, immerhin ist eine Straße in Haselhorst, der Gorgasring, nach ihm benannt.

Das Symbol der Nazis in Haselhorst war zweifellos die Weihnachtskirche. 1935 wurde der Neubau im neoklassizistischen Stil fertiggestellt – und schnell zur Hochburg der von den Nazis dominierten „Deutschen Christen“. 1938 wurde sogar das Kruzifix aus der Kirche entfernt. Die Begründung: Jesus sei Jude gewesen. „Allerdings gehört die Kirche nicht mehr zur Siedlung, die 1935 bereits fertig war“, betont Michael Bienert.

Übernahme durch Nazis

Obwohl zu den acht Architekten der Reichsforschungssiedlung auch der ungarische Jude Fred Forbát gehörte, wurde sie nicht im Sinne des deutschtümelnden Heimatschutzstils umgestaltet. „Die Nazis haben die Architektur respektiert, aber nicht die Architekten“, sagt Bienert und verweist auf das Schicksal Forbáts. Der musste 1933 sein Büro auflösen und floh über Ungarn nach Schweden. Seine Eltern und beiden Schwestern wurden im KZ Auschwitz ermordet. Andere kamen erst gar nicht zum Zuge.

Die beiden jüdischen Architekten Alexander Klein und Alfred Gellhorn hatten den Auftrag für den Bau des Blocks 3 und 3a bekommen. Sie mussten aus Deutschland fliehen, bevor mit dem Bau begonnen wurde. An ihrer Stelle bekam das Büro von Ernst und Günther Paulus den Zuschlag. Die Architektur blieb modern.

Ganz ohne nationalsozialistisches Brimborium kam die Reichsforschungssiedlung dennoch nicht aus. Bei den Feiern zur Fertigstellung des letzten der sechs Bauabschnitte 1935 wurde in einem Park eine Skulptur aufgestellt. Ein „Denkmal der Nationalen Erhebung“ sei das, hieß es in der Berliner Morgenpost, „das einen Adler darstellt, der seine Kinder beschützt, ein Sinnbild dafür, wie das Reich über seine Kinder wacht“.

Zehn Jahre Sanierung

Wenn heute einer über die Siedlung wacht, ist es Thomas Rasmussen. Zehn Jahre seines Lebens hat der Bauleiter nun in Haselhorst verbracht, und ein wenig fällt ihm der Abschied schwer. „Am Anfang habe ich gedacht, das ist gar nicht zu bewältigen“, freut er sich, „aber nun haben wir es geschafft.“

Leicht war es nicht, auch weil die Siedlung 1995 unter Denkmalschutz gestellt worden war. „Doch die Zusammenarbeit mit den Denkmalschutzbehörden war gut“, bilanziert Rasmussen. „Wir konnten sogar Balkone anbringen.“ Allerdings wurde peinlich genau darauf geachtet, dass die Balkone nicht aussehen wie aus den dreißiger Jahren. „Der Denkmalschutz wollte eine zeitgemäße Lösung, die sich vom Erscheinungsbild aus der Bauzeit unterscheidet.“

120 Millionen Euro hat die Gewobag in den zehn Jahren in die Sanierung investiert. Dabei wurden 14.922 nach Maß gefertigte Holzfenster eingebaut. „Auch bei der energetischen Sanierung ist uns der Denkmalschutz entgegengekommen“, sagt Rasmussen erfreut. „Wir konnten dämmen, mussten aber die Fenster dann entsprechend der Stärke der Dämmung nach außen verlegen, damit sich das Gesamtbild nicht verändert.“

Und noch etwas hat Rasmussen geschafft. Er hat mit Mietern geredet, die in größere oder kleinere Wohnungen ziehen wollten, hat Wünsche entgegengenommen und immer auch wieder den Ärger. So hat er auch ein bisschen für Ruhe während des Sanierungsgeschehens gesorgt.

Auch der Eigentümer kam den Mietern entgegen. „Die Gewobag hat zugesichert, dass es bei Umzügen innerhalb der Siedlung keine Neuvermietungszuschläge gibt“, sagt Rasmussen. Dennoch ist der Anstieg der Miete für viele ein Problem. Statt 4,81 Euro pro Quadratmeter im Schnitt kostet die Kaltmiete nun 6,41 Euro.“ Weil die Wohnungen aber meistens so klein sind, sei das für die meisten noch zu verkraften.

Stolz sind sie also auf ihre Siedlung, auch wenn sie es nicht auf die Unesco-Liste geschafft hat. Nur mit dem Namen ist es immer noch so eine Sache. Für die Gewobag firmiert die Reichsforschungssiedlung noch immer unter dem weniger seltsamen Namen Haselhorst.

■ Michael Bienert: „Moderne Baukunst in Haselhorst“. Berlin Story Verlag, 144 Seiten, 19,80 Euro