Freud fürs Volk

TRAUMDEUTUNG Zum Preis einer guten Flasche Wein

Vielleicht geht es Freud wie Marx, der in der Finanzkrise eine erstaunliche Wiedergeburt erlebte

Totgesagte leben länger – das gilt offensichtlich auch für Sigmund Freud. Zum 150. Geburtstag des Begründers der Psychoanalyse 2006 war oft zu lesen, Freuds Theorien seien unwissenschaftlich und für heute unbrauchbar. Sie taugten allenfalls noch Literaturtheoretikern zur Inspiration. Von solcher Kritik unbeirrt, hat Zweitausendeins nun eine Auswahl von Freuds zentralen Schriften zum Discount-Preis auf den Markt geworfen: 2.500 Seiten für 15,99 Euro. 2008 hatte der Verlag bereits eine einbändige Karl-Marx-Ausgabe inklusive „Das Kapital“ Band 1 und „Das Kommunistische Manifest“ für 7,99 Euro herausgebracht.

Freuds Werk als „wohlfeile Volksausgabe“ in bester aufklärerischer Tradition – braucht es das? Der Verlag Zweitausendeins ließ für die erste Auflage 10.000 Exemplare drucken. Jetzt kann sich auch die ärmste Studentin ihren Freud leisten. Die Freud-Gesamtausgabe kostet beim S. Fischer Verlag stolze 1.425 Euro, die Studienausgabe im Taschenbuch 329 Euro.

Natürlich handelt es sich jetzt um eine reine Leseausgabe ohne Namens- und Stichwortregister oder kritischen Apparat. Für 16 Euro kann man darüber aber großzügig hinwegsehen, ebenso, dass sich beim Blättern schnell ein paar Seiten „Traumdeutung“ aus ihrer prekären Bindung lösen. Für den Zweck einer Leseausgabe wären zudem mehr als zwei Bände angemessen gewesen – zur Lektüre außerhalb der eigenen vier Wände sind die beiden Wälzer zu schwer und unhandlich.

In seinem Vorwort verschafft Micha Brumlik, taz-Autor und Verfasser einer populärwissenschaftlichen Annäherung an Freud, dem Leser keinen revolutionären Erkenntnisgewinn. Auch bezüglich der Aktualität Freuds mag Brumlik keine klare Position beziehen. Die angebotene Textauswahl macht aber Sinn: Band 1 enthält mit der „Traumdeutung“ und den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ die wichtigsten theoretischen Schriften zur Psychoanalyse. Die kurze und wohl bekannteste Schrift Freuds, „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“, bietet ein leicht zugängliches Anschauungsbeispiel.

Im zweiten Band sind neben Abhandlungen Freuds zu Sexualität oder Witz auch seine gesellschafts- und kulturtheoretischen Schriften vereint: „Das Unbehagen in der Kultur“, „Der Mann Moses“ und „Die Zukunft einer Illusion“. In ihnen setzt Freud sich nicht mit der Psyche des Individuums, sondern mit Gesellschaft, Religion und auch mit dem Marxismus auseinander. Vielleicht geht es Freud ja wie Marx, der auf dem Höhepunkt der Finanzkrise eine erstaunliche Wiedergeburt erlebte, als an den Universitäten „Das Kapital“-Lesekreise wie Pilze aus dem Boden schossen. Die Marx-Volksausgabe für 7,99 Euro ist bei Zweitausendeins jedenfalls schon ausverkauft. JETTE GINDNER