Es ist vorbei

ZEITGESCHICHTE Zu dreieinhalb Jahren verurteilt das Landgericht die Ex-Aktivistin der Revolutionären Zellen, Sonja Suder. Sie muss die Strafe nicht absitzen und darf frei leben

Ein angegrauter italienischer Genosse singt „O sole mio“ für die schwarz gekleidete Exmilitante

AUS FRANKFURT AM MAIN PASCAL BEUCKER

Als Sonja Suder am Dienstag um kurz nach 11 Uhr das Gerichtsgebäude verlässt, brandet Jubel auf. Umringt von etwa hundert Unterstützern, die zu ihrer Begrüßung gekommen sind, nimmt die 80-jährige Rentnerin ihren 72-jährigen Lebensgefährten Christian Gauger in den Arm. Jemand reicht ihr ein Glas Sekt. Sie herzt ihre französischen Freunde. Ein ebenfalls in die Jahre gekommener italienischer Genosse singt der ganz in schwarz gekleideten Exmilitanten ein Ständchen: O sole mio. Sie lacht.

Zwei Stunden zuvor hatte Sonja Suder noch im hochgesicherten Saal II im Gebäude E des Frankfurter Landgerichts gesessen. Die Sonnenbrille hat sie abgelegt, nachdem die Kameras aus dem Saal waren. Mit regungsloser Miene hörte sich die rüstige alte Dame den Schuldspruch der Vorsitzenden Richterin Bärbel Stock an.

Das Urteil: dreieinhalb Jahre Haft. Die Schwurgerichtskammer hielt es für erwiesen, dass die damalige Medizinstudentin Ende der Siebzigerjahre an drei terroristischen Aktionen der Revolutionären Zellen beteiligt war. Dabei geht es um zwei Bombenanschläge auf die Firma MAN in Nürnberg und den Pumpenhersteller Klein, Schanzlin & Becker im rheinland-pfälzischen Frankenthal im August 1977, sowie eine Brandstiftung im Königssaal des Heidelberger Schlosses im Mai 1978.

Es ist nicht der von ihrer Verteidigung geforderte Freispruch, der Suder die Freiheit beschert hat. Der Haftbefehl gegen sie ist nicht aufgehoben, sondern nur ausgesetzt. Trotzdem wird sie nicht wieder ins Gefängnis zurückkehren müssen. Nach 26 Monaten in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt-Preungesheim und der Zeit in der Auslieferungshaft in Frankreich hat sie mehr als zweidrittel der Strafe verbüßt.

Denn vom Hauptanklagepunkt sprach das Gericht sie frei: Dass sie den Überfall auf die Konferenz der Organisation erdölexportierender Länder (Opec) 1975 in Wien mit vorbereitet habe. Der Vorwurf der Beihilfe zum dreifachen Mord, versuchtem Mord und Geiselnahme habe sich nicht belegen lassen, sagte Richterin Stock.

Die Aussagen des Belastungszeugen Hans-Joachim Klein, der 2001 wegen seiner Beteiligung an dem Angriff auf die Opec-Konferenz zu neun Jahren Haft verurteilt wurde, hätten „nicht die erforderliche Zuverlässigkeit“ aufgewiesen. Das Ex-RZ-Mitglied Klein habe „auf Nachfragen keine klare Antworten geben und Widersprüche nicht nachvollziehbar erklären können“. Stock betonte jedoch, dass Klein Suder „weder vorsätzlich noch fahrlässig falsch belastet“ habe. Sein Erinnerungsvermögen sei „stark verblasst“.

Die Basis für die noch verbliebenen Beschuldigungen ist fragwürdig. Denn die Verurteilung Suders basiert auf den Aussagen des RZ-Mitglieds Hermann Feiling. Feiling war bei der Vorbereitung eines Anschlags im Sommer 1978 ein Sprengsatz im Schoß explodiert. Unmittelbar nach der Notoperation, bei dem ihm beide Beine amputiert und die Augen entfernt wurden, haben Ermittler den Schwerverletzten vernommen. Die Protokolle, in denen auch Suder schwer belastet wird, umfassen 1.296 Seiten.

Suders Verteidiger Detlef Hartmann spricht im Fall Feiling von „verbotenen Vernehmungsmethoden“. Im Gegensatz dazu sah Richterin Stock „kein Verwertungsverbot“. Feiling sei damals vernehmungsfähig gewesen. Außerdem müsse seine „Motivationslage“ berücksichtigt werden: Er habe „damals reinen Tisch machen wollen“. Kein Wort verlor sie darüber, dass Feiling später seine Aussagen widerrufen und als „das Ergebnis einer Behandlung, die den Namen Folter verdient“, bezeichnet hat.

Schon den damaligen Generalbundesanwalt Kurt Rebmann hatte das nicht geschert. Dank Feilings Auskunftsfreude sei es endlich gelungen, „seitens der Strafverfolgung in die Revolutionären Zellen einzudringen“, verkündete er stolz.

In der Folge tauchte rund ein Dutzend linksradikaler AktivistInnen in die Illegalität ab. Dazu gehörten Suder und ihr Lebensgefährte Gauger, die im August 1978 nach Frankreich flohen. Dort lebten sie bis zu ihrer Enttarnung im Jahr 2000 unter spartanischen Verhältnissen in der Illegalität. Es war eine einsame Zeit. „Wir lebten all die Jahre eher zurückgezogen“, sagte Suder Anfang 2010 in einem Gespräch mit der taz in Südfrankreich. „Wenn du ständig mit einer Legende lebst, kannst du keine wirklichen Freundschaften aufbauen.“ Ihr Geld verdienten sie auf Flohmärkten. Zuletzt wohnten die beiden in einer winzigen Zweizimmerwohnung im Pariser Vorort St. Deniz. 2011 wurden die beiden an Deutschland ausgeliefert.

Als der Prozess am 21. September 2012 begann, saß neben Sonja Suder noch ihr Lebensgefährte Christian Gauger auf der Anklagebank. Aufgrund seines stark angegriffenen Gesundheitszustands wurde das Verfahren gegen ihn im April abgetrennt und wenige Monate später wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit endgültig eingestellt. Gauger leidet an den Folgen eines Schlaganfalls, den er 1997 im französischen Exil erlitten hatte. Gemeinsam verlassen Suder und Gauger am Dienstag das Gerichtsgelände. Sie schauen glücklich. Ihre Freunde singen „Bella Ciao“. Es ist vorbei.