Der Geduldete

Keine Schonfrist. Zwei Asylanträge wurden abgelehnt. Der Appell einer Härtefallkommission stieß beim Innensenator auf taube Ohren

AUS BERLIN HEIKE HAARHOFF

Sein Kopf schraubt sich bald in den Boden. Hartes Linoleum. Das Plastikkäppi und die beiden Wollmützen darunter dürften bald durchgescheuert sein. Hiphop, Breakbeats, House, ein bisschen Techno. Die Anlage im Jugendzentrum „Feuerwache“ in Berlin-Britz ist bis zum Anschlag aufgedreht. Er hat die Augen geschlossen. Die Arme sind starr vor der Brust verschränkt, die Hände halten die Schultern. Der Antrieb kommt aus den Beinen. Wie Hubschrauberblätter, zum Spagat gespreizt, rotieren sie durch die Luft und sorgen dafür, dass sein Kopf am Boden sich immer schneller dreht.

Da klappen die Beine plötzlich zur Seite, der Tänzer fällt auf die Füße. Verschlissene Nike-Turnschuhe, an den Fersen sind Löcher in das Leder geschnitten. Er reckt sich, reißt die Mützen vom Kopf, fährt sich mit den Fingern durchs schwarze Haar, lacht. Ruft: „Shake! Move!“ Der Rest seiner Anweisungen an die umstehenden Tänzer geht im Gedröhne der Bässe unter. Schon wirft er sich wieder auf die Erde, diesmal nur auf einen Ellenbogen gestützt. Und hüpft. Hüpft auf nur einem Ellenbogen durch den Raum. Die Beine, wie der übrige Körper im 45-Grad-Winkel in die Luft gestreckt, spreizt und schließt er dabei abwechselnd im Takt. Es sieht aus, als würden sie ihm applaudieren.

Hassan Akkouch fällt auf. Wer dem Berliner Breakdancer beim Training mit anderen Jugendlichen und Kindern zusieht, der muss kein Headhunter für Subkultur sein, um sein Kaliber zu erkennen: athletischer Körper, 55 Kilo leicht, höchstens 1,65 Meter groß. Wendig, kreativ, konzentriert. Berliner Meister bei den Anfängern im Breakdance 2005, bester Breakdancer Norddeutschlands seiner Altersklasse 2004, erster Platz beim Berliner Church Battle 2006, Theater- und Tanzauftritte in Hannover und Bremen, Mitwirkender an einer Doku-Soap des ZDF zur Fußballweltmeisterschaft, Streetdancer im Auftrag der Berliner Stadtentwicklungsbehörde, die die Bürger über ungewöhnliche Aktionen zur Mülltrennung animieren will. Er ist erst 17 Jahre alt.

Aber das allein ist es nicht. Hassan Akkouch ist kein Einzelkämpfer. Sein Talent, sein Wissen teilt er bereitwillig mit anderen, gleichaltrigen oder jüngeren Mädchen und Jungen, die Breakdance „cool“ finden. Oder, um es in der Sprache der Sozialarbeiter zu formulieren: es zum Ausdruck ihrer kulturellen Identität machen. Deren Gemeinsamkeit freilich beschränkt sich darauf, dass ihre Großeltern oder Eltern vor Jahren vor Krieg, Verfolgung oder Armut aus dem Nahen Osten, Südosteuropa oder Afrika nach Deutschland geflohen sind.

Hassan Akkouch war knapp zwei, als seine Familie 1990 aus dem bürgerkriegszerstörten Libanon nach Berlin kam. Er redet nicht darüber. Er sagt nur: „Wenn ich schon trainiere, warum soll ich denen nicht beibringen, was ich gelernt habe. Ich sehe doch, das macht denen Spaß. Ist doch besser, als wenn sie auf der Straße rumgammeln.“

Also gibt er Tipps zur Körperhaltung, tanzt schwierige Schrittfolgen in Zeitlupe vor, zählt laut für diejenigen mit, die den Rhythmus verloren haben. Und wenn es Streit gibt, um ein verschwundenes Handy, um die familiäre Ehre oder Schulden, dann schreitet er ein, spricht mit den Zankhähnen auf Arabisch oder Deutsch, muss kaum die Stimme heben dabei. Sie respektieren ihn, weil er ihnen auch als Tänzer ein Vorbild ist. Egal ob in der „Feuerwache“ in Britz, in der „Baptistenkirche“ im Wedding oder in der „Manege“ in Neukölln gegenüber der Rütli-Schule, die neulich vor der innerschulischen Gewalt und einer gescheiterten Integrationspolitik kapitulierte. Egal in welchem Jugendtreff der Berliner Problemkieze also, denen ein bundesweiter Ruf vorauseilt als Ghetto für Migranten, Arbeitslose, Arme, Kleinkriminelle und andere Zukunftslose.

Die Geschichte des Hassan Akkouch ist eine Geschichte des Erfolgs und des Scheiterns. Darüber, wie eine gelungene Integration von deutschen Politikern und dem deutschem Ausländerrecht zunichte gemacht wird. Denn Hassan Akkouch soll gehen. Deutschland verlassen, nach 16 Jahren. Zurück in den Libanon, dessen Sprache er spricht, aber nicht schreibt, und dessen Kultur er nur aus Erzählungen kennt. Zurück.

Heute, nächste Woche, in vier Monaten – keiner kann das so genau sagen, nicht einmal die Berliner Innenverwaltung. Die hat Hassan Akkouch, seine vier Geschwister und seine Mutter für „vollziehbar ausreisepflichtig“ erklärt. Das bedeutet: Es gibt keine Schonfrist mehr. Zwei Asylanträge waren zuvor abgelehnt worden. Der eindringliche Appell einer Härtefallkommission auf ein Bleiberecht für die Familie „aus humanitären Gründen“ und wegen ihrer „enormen gesellschaftlichen Integration“ stieß beim Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD) auf taube Ohren.

In Sonntagsreden und vor politischen Gegnern, zuletzt in der Debatte um die Rütli-Schule, rühmt sich Körting gern der „Verantwortung für diejenigen, die hier aufgewachsen sind und hier leben“. Für Hassan Akkouch, dem libanesischen Breakdancer zugunsten deutscher Mülltrennung, dem Schülersprecher der Berliner Alfred-Nobel-Oberschule, dem Vorbild für viele ausländische Jugendliche, vermochte er keine Verantwortung zu erkennen. Die Gründe hierfür bleiben sein Geheimnis, ein Politiker muss nicht erklären, weshalb er die Empfehlung einer Härtefallkommission ablehnt. Die Abschiebung ist demnach nur noch eine Frage des Termins. Die ausländerrechtliche Duldung, die der Familie einen befristeten Aufenthalt in Deutschland gewährte, läuft heute ab.

Thomas Arndt sitzt vor einem Aktenberg an seinem Schreibtisch, ihm gegenüber Ronjos Skeikei, die Mutter von Hassan Akkouch, 34 Jahre, schwarze Lederjacke, drei Ringe in jedem Ohr, die Haare streng zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Es ist ein dunkles Büro in einer der weniger einladenden Gegenden Berlins, in der der Rechtsanwalt Arndt seine Klienten berät, ein paar Meter weiter beginnt der Straßenstrich. Viele der Fälle, derer sich Arndt annimmt, sind nicht unbedingt lukrativ für eine Kanzlei, „aber da geht es um Schicksale“, sagt er. Schicksale wie das der Familie Skeikei/Akkouch.

„Die ausländerrechtliche Seite ist erschöpft“, sagt Thomas Arndt zu Ronjos Skeikei. Sie nickt, sie hat keine Nachfragen. Vor 16 Jahren, selbst noch ein halbes Kind damals, ist sie als Analphabetin nach Deutschland gekommen. Später hat sie sich hier von ihrem Mann getrennt und die fünf Kinder allein großgezogen, hat sie in deutsche Fußballvereine und auf deutsche Schulen geschickt und darauf geachtet, dass keins der Kinder auf die schiefe Bahn gerät. Gerade macht sie an einer Berliner Abendschule ihren Hauptschulabschluss nach. Sie kann das Ausländergesetz lesen, und sie weiß, formal hat sie keine Chance. „Auf wen soll ich also wütend sein“, fragt sie, „auf die Sachbearbeiter in den Behörden etwa? Die können doch auch nichts dafür.“

Der Bürgerkrieg im Libanon ist zu Ende. Schiiten gelten nicht als politisch verfolgte Gruppe. Ronjos Skeikei und ihre Kinder sind in Deutschland auf Sozialhilfe angewiesen; die Arbeitserlaubnis, die die Behörden der Mutter vor sechs Jahren ausnahmsweise erteilten, um die staatlichen Kosten zu senken, hat ihr nicht genutzt: als ungelernte Kraft, als Ausländerin, als Epileptikerin, als Mutter von fünf Kindern in Berlin einen Job zu finden – sie winkt ab. Schon seit drei Jahren versucht das Land, die Familie loszuwerden. Am 2. April 2003 schien dieses Ziel erreicht.

„Sie kamen morgens um fünf, vier oder fünf Polizisten, es war Maradonas Geburtstag, mein kleiner Bruder wurde neun Jahre alt an dem Tag“, sagt Hassan Akkouch. Er hat sein Training unterbrochen, er sitzt jetzt im Büro des Jugendclubs. Wenn er nicht tanzt, wirkt er plötzlich sehr erwachsen und ernst, beinahe verschlossen. Sein Ton bleibt auch da sachlich, als er über seine eigene Abschiebung berichtet. „Wir durften uns alle was zum Spielen mitnehmen, dann mussten wir ins Polizeiauto und in Tegel direkt ins Flugzeug.“ Erst in Beirut durften sie die Maschine wieder verlassen.

Hassan Akkouch mag nicht erzählen von den knapp sechs Wochen, die er und seine Familie in dem Land, das die deutschen Behörden für ihre Heimat halten, anschließend zubrachten. Nur so viel: „Da gibt’s nicht mal normale Straßen.“ Was er gedacht und empfunden hat damals, wo er und seine Familie in diesen Wochen gelebt haben, wie und mit wem sie ihre Rückkehr nach Deutschland organisierten, all das behält er für sich. Es geht niemanden etwas an, und es tut nichts zur Sache, findet er. Nicht einmal seinen Lehrern oder Mitschülern, die ihn zum Schülersprecher gewählt haben, hat er sich anvertraut: „Das interessiert doch niemanden wirklich.“

Im Mai 2003 sind Hassan Akkouch und seine Familie wieder in Berlin. Schlepper haben ihnen nach Deutschland zurückgeholfen. Über die Umstände und die Kosten gibt keiner aus der Familie Auskunft. Dass sie traumatisch gewesen sein dürften, kann man sich selbst zusammenreimen. Hassan Akkouch und seine ein Jahr ältere Schwester Lial, die bis dahin keine Probleme in ihrer Realschule hatten, bleiben in dem Schuljahr nach der Abschiebung sitzen. Die kleineren Geschwister, erzählt die Mutter, geraten noch heute in Panik, wenn es früh morgens zufällig an der Tür klingelt. Alle Geschwister engagieren sich seit der Rückkehr noch intensiver in diversen Berliner Breakdance-Gruppen. „Beim Tanzen“, sagt Hassan Akkouch, „denkt man an nichts.“

In diesem Sommer wird er 18 Jahre alt werden und seinen Realschulabschluss machen. Für den Herbst hat er sich bei einer Fachoberschule für Sozialwesen beworben, das Abitur ist sein Ziel. Und später als Beruf Sozialarbeiter für Kinder, zum Beispiel aus der Rütli-Schule, die er schon jetzt im Club unterrichtet, Kinder, die einen ähnlichen Hintergrund haben wie er, aber weniger belastbar sind. Ja, sagt Hassan Akkouch, das könne er sich vorstellen: „Breakdance ist nur ein Hobby.“ Aber ohne Bleiberecht keine Studienerlaubnis, keine Arbeitserlaubnis, kein selbstständiges Leben. Keines in der Legalität jedenfalls.

Hassan Akkouch ist ab dem 13. Mai 2006 in der Dokusoap „Kingstylekickers“ zu sehen, die in der Sendung LIMIT ausgestrahlt wird, samstags um 12.35 Uhr im ZDF (Autor: Omar Abulzahab)