„Einsteigen bitte!“

Seit 20 Jahren rollt die „Linie 1“ über die Bretter des Grips Theaters. Bis heute ist es das erfolgreichste und meistgespielte deutsche Bühnenstück

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Was den Londonern ihre „Mausefalle“ von Agatha Christie ist oder den Pariser Theaterliebhabern der „Cyrano de Bergerac“ von Edmond Rostand, ist den BerlinerInnen die „Linie 1“ am Grips Theater. Denn alle drei Stücke gehen seit Jahrzehnten nahezu täglich über die Bühne. Die Story des typischen Westberliner Kultstücks kennen daher alle, selbst jene, die es nicht gesehen haben: Eine junge Ausreißerin aus der Provinz bleibt auf der Suche nach ihrem „Märchenprinzen“, einem Berliner Rockmusiker, auf der U-Bahn-Linie 1 hängen und macht dort die Bekanntschaft von schrägen, netten und irren „Vögeln“ der Großstadt Kreuzberg.

Am Sonntag, dem 30. April, feiert das Stück im Grips Theater seinen 20. Geburtstag. Und zu feiern gibt es reichlich. „Linie 1“ ist das mittlerweile erfolgreichste und zugleich meistgespielte deutsche Bühnenstück. Den Text verfasste Volker Ludwig 1986, Birger Heymann legte eine rockige Musik darunter. Seither rollt die „Linie 1“ quasi als Dauerbrenner Woche für Woche über die Bretter des Grips am Hansaplatz. 450.000 Karten wurden verkauft, ein Besuch des Theaters gehört heute zum Pflichtprogramm von Berlin-Schulreisen.

„Linie 1“, auch Berlins „Orient-Express“ genannt, weil die Bahn vom bürgerlichen Charlottenburg ins kultig-türkische Kreuzberg rumpelt, hat sage und schreibe 1.237 Aufführungen hinter sich. Am Sonntag folgt die 1.238. Sie wird eine Jubiläumsvorstellung und ist, wie fast alle Abende zuvor, ausverkauft. Congratulations!

Ludwigs Absicht damals, „eine Show, ein Drama, ein Musical über Leben und Überleben in der Großstadt, über Hoffnungen und Anpassung, Mut und Selbstbetrug“ zu inszenieren, war in der pädagogischen Lehranstalt Jugendtheater in den 1980er-Jahren der Republik anders und damit nicht en vogue. „Keine Sau wollte das Stück haben“, erinnert sich der Autor.

Erst nach und nach setzte sich die „Linie 1“ so wie in Berlin auch auf den anderen Bühnen durch – erst in Stuttgart und bei den Mülheimer Theatertagen, schließlich auf über 150 deutschsprachigen und 24 internationalen Bühnen. Im Ausland zählt bis dato „Linie 1“ zu den Rennern. Gastspiele und landeseigene Produktionen etwa in Italien, Kanada oder Indien feierten ebenfalls Erfolge.

Wie in Berlin zieht „Linie 1“ auch in Südkorea seit Jahren ein Massenpublikum an. Die dortige Version von „Seoul Linie 1“ hat 3.000 Aufführungen hinter sich. Kein deutsches Stück wurde öfter im Ausland gespielt.

Oft wurde gefragt, warum das Stück so nachhaltigen Erfolg hat. „Linie 1“ ist ein Kind der geteilten Stadt, der spezifischen Kreuzberger Atmosphäre, der politischen, sozialen und kulturellen Probleme und Eigenheiten. Seine Helden sind die Punker und Lebenskünstler, die Dealer und Arbeitslosen, junge Liebende und böse alte Wilmersdorfer Witwen.

Den Erfolg erklärt das allein nicht: Die heutige U-Bahn-Linie 1 fährt längst eine ganz andere Route. Auch das Schauspielensemble hat mehrfach gewechselt. Kids und Berlinbesucher heute dürften ganz andere Interessen und Sichtweisen auf Berlin haben als die Theaterfans damals.

Ludwig hat die Story und ihre rockigen Songs einmal als „Liebeserklärung“ an die Underdogs und Outlaws bezeichnet. Auch das reicht nicht, den Erfolg zu erklären. Vielmehr ist Ludwig mit „Linie 1“ ein Szenario gelungen, das die großen Gefühle mit den realen kleinen Welten verschmilzt.

„Linie 1“ ist darum ein Erfolg, weil es eine Mischung aus dem Evergreen „Boy meets girl“ bildet, dazu ein bisschen Berliner Westside Story und viel Berliner Schnauze. Nicht zu vergessen Mücke, Buletten-Trude und Bambi, die Musik, eine Portion Kitsch, der Mythos Kreuzberg und Happy End. Das macht’s.