Die Vereinten Nationen lügen

Berichte über die Folgen des Unfalls in Tschernobyl weisen eklatante Fehler auf und verschleiern das wahre Ausmaß der Katastrophe. Das hat System

AUS BERLIN ANNETTE JENSEN

Im vergangenen Herbst gelang der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) ein großer Coup. Am Ende ihres Tschernobyl-Kongresses in Wien verbreiteten fast sämtliche Medien die Nachricht: Bisher sind weniger als 50 Menschen durch den Atomunfall gestorben, höchstens 4.000 Tote sind noch zu erwarten – also alles halb so schlimm. Und das Beste aus Sicht der IAEA, deren Hauptaufgabe die Förderung der zivilen Atomkraft überall auf der Welt ist: Nicht nur ihr eigenes Logo stand über der entsprechenden Pressemitteilung. Noch zwei weitere UNO-Organisationen zeichneten für die Pressemitteilung verantwortlich.

Vor allem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab dem Ganzen den Anstrich unzweideutiger Objektivität. Doch wer sich näher mit den umfänglichen Unterlagen beschäftigt, die auf dem Kongress veröffentlicht wurden, stößt schnell auf eklatante Fehler und Widersprüche.

Die WHO hatte in Wien ein 180-Seiten-Papier über die Gesundheitsfolgen von Tschernobyl vorgelegt. Dabei handelt es sich um eine sehr unvollständige Literaturstudie. Zwar betont die WHO immer wieder, dass sie die Arbeiten von hunderten von Wissenschaftlern gesichtet habe. Doch ein erheblicher Teil insbesondere der auf Russisch publizierten Forschungsarbeiten bleibt einfach außen vor.

Als zentrale Grundlage zur Abschätzung der zu erwartenden Todesfälle dient der WHO eine zehn Jahre alte Expertise von Elisabeth Cardis von der „International Agency for Reasearch on Cancer“ in Lyon. Sie bezieht sich ausschließlich auf die zu erwartenden Leukämie- und Krebsopfer in Weißrussland, Russland und der Ukraine. Die zur Schätzung relevante kollektive Strahlendosis berechnet Cardis darüber hinaus lediglich bis zum Jahr 1995. Indem die WHO diese Zahlen übernimmt und sie als zu erwartenden Gesamtschaden durch Tschernobyl darstellt, ignoriert sie, dass ein Drittel der Strahlenbelastung wegen der langen Halbwertzeiten der radioaktiven Substanzen erst nach 1995 auftritt. Außerdem hat Krebs häufig lange Latenzzeiten. Auch Herzinfarkte und andere schwere Krankheiten fallen von vornherein aus der WHO-Todesfallstatistik heraus. Und dass es möglicherweise auch Opfer außerhalb der drei am stärksten verseuchten Länder gegeben hat, zieht die WHO gar nicht erst in Erwägung.

Cardis trug ihre Forschungsergebnisse im vergangenen Jahr noch einmal selbst auf dem IAEA-Kongress in Wien vor. Sie erwartet nicht nur, dass 2.200 Katastrophenhelfer und 1.760 Bewohner hoch verstrahlter Gebiete den Reaktorunfall mit dem Leben bezahlen – was den später in der Pressemitteilung erwähnten rund 4.000 Todesfällen entspricht. Die Wissenschaftlerin prognostizierte darüber hinaus auch 370 Leukämie- und 4.600 sonstige Krebstote in den weiterhin bewohnten, mittelstark belasteten Gebieten.

Doch diese fast 5.000 Menschen ließ die IAEA am Schluss der Konferenz einfach unter den Tisch fallen: „Das Expertenteam (fand) keinen Beweis für einen Anstieg von Leukämie und Krebs bei den betroffenen Bewohnern.“ Offenbar haben die Verantwortlichen in der Weltgesundheitsorganisation nicht gegen diese Formulierung in der Pressemitteilung protestiert – obwohl sie ihrer eigenen, auf dem Kongress vorgelegten Expertise eindeutig widerspricht.

Doch auch die WHO-Studie selbst gibt das Ausmaß der Gesundheitsfolgen auf keinen Fall zutreffend wider. Obwohl unbestritten 600.000 bis 800.000 meist jüngere Männer in der 30-Kilometer-Zone rund um den explodierten Reaktor aufgeräumt und den Sarkophag gebaut haben, gehen bei der WHO-Studie lediglich 200.000 überhaupt in die Berechnungen ein. Außerdem sind die Daten über die Strahlenbelastungen, denen sie ausgesetzt waren, unvollständig und äußerst unseriös. Längst nicht alle Liquidatoren waren bei ihrem Einsatz mit Messröhrchen ausgestattet. Außerdem gingen viele Dosimeter wegen der extrem hohen Strahlung schnell kaputt.

Und immer wieder haben Katastrophenhelfer berichtet, dass ihre Vorgesetzten die Werte in den offiziellen Dokumenten schamlos manipuliert hätten. Für 37 Prozent der russischen und sogar 91 Prozent der weißrussischen Liquidatoren existieren überhaupt keine individuellen Messdaten. Dennoch bildet die WHO einen Mittelwert, auf dessen Grundlage sie die zu erwartenden Todesopfer abschätzt.

Hinzu kommt, dass der Kreml 1987 per Erlass verboten hatte, dass „die akuten und chronischen Erkrankungen von Personen, die an der Liquidation der Folgen der Havarie im Atomkraftwerk Tschernobyl teilgenommen haben und die eine Dosis von weniger als 50 rem haben […] in einen Zusammenhang mit der Wirkung ionisierender Teilchen gebracht werden.“ Schon zuvor waren alle Informationen über die radioaktive Belastung der Aufräumarbeiter zur Verschlusssache erklärt worden. Kurzum: Die Sowjetunion tat alles Erdenkliche, um die Höhe der Strahlung unter den Katastrophenhelfern zu vertuschen. Zugleich setzte sie die These in die Welt, dass lediglich bei ein paar heldenhaften Liquidatoren der ersten Stunde schwere Gesundheitsfolgen zu beklagen seien. Ansonsten seien die meisten Krankheitssymptome nicht auf die Radioaktivität selbst, sondern auf die Angst davor zurückzuführen. Dafür erfand man im Kreml den Ausdruck „Radiophobie“.

Die UNO unterstützt bis heute diesen Umgang mit dem Thema: „… bis Mitte 2005 (konnten) weniger als 50 Tote direkt auf die Strahlung durch den Unfall zurückgeführt werden. Es handelte sich dabei vor allem um Rettungsarbeiter, die hoher Strahlung ausgesetzt waren und von denen viele innerhalb weniger Monate nach dem Unfall, manche aber auch erst 2004 starben.“ Daneben seien die psychischen Folgen „das größte Gesundheitsproblem, das vom Unfall verursacht wurde“.

Niemand weiß, wie viele Liquidatoren tatsächlich schon gestorben sind – auch weil nur die Hälfte von ihnen überhaupt registriert ist. 400.000 Männer kehrten in die verschiedenen Sowjetrepubliken zurück, ohne dass heute noch irgendwelche Aufzeichnungen über sie existieren. Verschiedene Studien belegen jedoch, dass vermutlich schon sehr viele ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt haben. So stellte der Minsker Professor für Kardiologie, Dimitri Lazyuk, für die Jahre 1992 bis 1997 fest, dass tödlich endende Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei ehemaligen Katastrophenhelfern neunmal so schnell angestiegen waren wie in der übrigen Bevölkerung.

Auch Lungen-, Magen-, Darm-, Blasen- und Nierenkrebs sind unter den Liquidatoren wesentlich stärker verbreitet. Das Institut für klinische Radiologie in Kiew registrierte zudem eine krasse Zunahme von Geisteskrankheiten sowie neurologischen und sensorischen Störungen. Das Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, ist für diese Männer fast fünfmal so hoch wie für ihre Zeitgenossen. Sehr viele leiden an Depressionen.

Strahlenmediziner erstaunt die Entwicklung nicht: Nach den Atombombenabwürfen auf Hiroschima und Nagasaki wurde Ähnliches beobachtet. Die Ukraine geht davon aus, dass 94 Prozent der Liquidatoren heute mehr oder weniger schwer krank sind. Wie viele Suizid verübt haben, ist unklar. Immer wieder taucht die Zahl 50.000 auf. Belegen lässt sie sich nicht.

Darüber hinaus unterschlägt die UNO auch viele wissenschaftliche Studien über die Bewohner der verstrahlten Gebiete. Ein Beispiel: Das Institut für Neurochirurgie in Kiew, dem alle Hirntumorfälle im Land gemeldet werden, hat seit 1987 eine Versechsfachung dieser Krebsart bei Kindern unter drei Jahren beobachtet. Eine andere Untersuchung aus der Ukraine belegt, dass sich die durchschnittlich verbleibende Lebenszeit von Magen- und Lungenkrebskranken nach 1986 deutlich verkürzt hat. Hatten die Patienten und Patientinnen vorher in der Regel noch drei bis fünf Jahre vor sich, so blieben ihnen zehn Jahre später gerade noch zwei Monate zu leben.

Auch die Zahl einiger Leukämieformen nahm um bis zu 270 Prozent zu, wie Untersuchungen aus der weißrussischen Region Gomel zeigen. Dennoch heißt es im Kapitel des WHO-Berichts über Krebserkrankungen: „Kein definitiver Beweis einer messbaren Risikozunahme wurde bisher berichtet.“

Den extremen Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei jungen Menschen, die 1986 noch nicht ausgewachsen waren, leugnet heute selbst die IAEA nicht mehr. Eindeutige Ursache ist das radioaktive Jod, das kurz nach der AKW-Explosion in großen Mengen in der Luft schwebte und sich schnell in den Schilddrüsen der Menschen ablagerte. Dort entwickelt es nun viele Jahre später seine Zerstörungskraft.

Anfang der 90er-Jahre hatte die IAEA den Alarmruf ukrainischer und weißrussischer Wissenschaftler noch in den Wind geschlagen und behauptet, es gebe keine Gesundheitsrisiken, die sich direkt auf die Strahlenbelastung zurückführen lassen. Und auch heute versucht sie erneut abzuwiegeln. Dass nämlich nicht nur 4.000 damalige Kinder und Jugendliche, sondern auch 9.000 ältere Menschen in Weißrussland an Schilddrüsenkrebs leiden – und damit sechsmal so viele wie vor Tschernobyl –, unterschlägt sie weiter.

Die dauerhafte Belastung mit radioaktivem Cäsium, das die Menschen durch Nahrungsmittel aufnehmen, führt außerdem zu vielen anderen Krankheiten. In Weißrussland berichten Ärzte von Herzrhythmusstörungen und sogar Herzinfarkten bei Minderjährigen. Das ukrainische Tschernobylministerium registrierte in den fünf Jahren nach der Reaktorexplosion einen vierzigfachen Anstieg von Kreislaufkrankheiten unter den Bewohnern besonders belasteter Gebiete. Schädigungen der Verdauungsorgane nahmen sogar um den Faktor 60 zu.

Doch auch wenn die WHO sehr viele ernst zu nehmende Forschungsarbeiten ignoriert, bestreitet sie nicht, dass sich die Gesundheitslage in den belasteten Gebieten verschlechtert hat. Die zentrale Ursache dafür verortet sie aber jenseits der Radioaktivität: Auch in anderen Exsowjetrepubliken sinke schließlich die Lebenserwartung insbesondere der Männer, Desorientierung und Alkoholismus nähmen zu. „Armut, Lifestyle-Krankheiten und psychische Probleme stellen eine viel größere Bedrohung für die lokalen Gemeinden als die Verstrahlung dar“, heißt es in der gemeinsamen Presseerklärung von WHO und IAEA. Beweise für diese Behauptung bleiben die Autoren schuldig.

Die unbestreitbaren Gesundheitsfolgen lastet die UNO fast völlig dem katastrophalen Krisenmanagement der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten an. Zwar bestreitet niemand, dass die Behörden die Menschen vielfach belogen, entmündigt und fatale Fehlentscheidungen getroffen haben. Doch ist die radioaktive Strahlung deshalb fast ungefährlich – und macht nur die Aufregung darüber die Menschen krank?