„Früher Götter, heute Menschen“

Fragmente Der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit hat jüngst den zweiten Teil seines Pocahontas-Komplexes vorgelegt – das „Buch der Königstöchter“. Ein Gespräch über Mythen, Männer und Gewalt

■ Person: Geboren am 7. Februar 1942 in Ebenrode, Ostpreußen. Literaturwissenschaftler, Kulturtheoretiker und Schriftsteller. Theweleit lebt in Freiburg, ist als freier Autor tätig und hat Lehraufträge in Deutschland, den USA, der Schweiz und Österreich

■ Wirken: Bekannt wurde Theweleit Ende der Siebziger mit seiner zweibändigen Untersuchung „Männerphantasien“, die im Kontext der Aufarbeitung des Nationalsozialismus entstand – sie gilt als eines der ersten Werke der internationalen Männerforschung

■ Aktuelles Buch: Zuletzt erschien das „Buch der Königstöchter“, der zweite Teil des auf vier Bände angelegten Pocahontas-Komplexes. In seinem Zentrum stehen Sagen und Erzählungen über die antike Königstochter Medea und die indianische Häuptlingstochter Pocahontas. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/Main 2013

VON ULRIKE FOKKEN
UND EDITH KRESTA
(INTERVIEW) & OLAF BALLNUS (FOTO)

sonntaz: Herr Theweleit, Sie beschreiben Geschichte und Politik aus psychoanalytischer Sicht. Ihr Buch „Männerphantasien“ über die Psyche faschistoider Männer war Ende der siebziger Jahre ein Renner. Haben Sie selbst eine Psychoanalyse gemacht?

Klaus Theweleit: Ich habe eher so etwas wie eine wilde Analyse betrieben, früh Freud gelesen und all die anderen, durchgeackert in Kneipen und Gruppen, politischen wie künstlerischen. Meine Frau ist Psychoanalytikerin. Wir kennen uns seit 1965. Sie war in der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig. Das hat mich stark beeinflusst. Sie steckt in meinem ganzen Schreiben drin. Sie hat auch alles gelesen, verändert, mich zum Umschreiben veranlasst. Meine Frau liest bis heute fast alle meine Texte und kritisiert sie. Meistens hat sie recht.

Sie beziehen sich auf Freud, nie auf Jung?

Jung war mir immer zu mystisch. Für mich gibt es zwischen Kunst und Mystik einen himmelweiten Unterschied.

In Ihrem jüngsten Buch „Pocahontas“ befassen Sie sich doch fast ausschließlich mit Mythen?

Wenn ich die griechischen Mythen als Begleittext zu einem realen Vorgang lese, nämlich zu Kolonialismus und Landnahme, dann ist es das Gegenteil von Mystik. Das zieht die Mythen auf Realebene. Die mythische Geschichte läuft mit einer politischen Geschichte direkt konform. Medea, Kleopatra/Dido, Pocahontas – immer weibliche Hilfe für die Eroberer. Die Mythen und Dramen sind umgearbeitete Zeitgeschichte. Sie erzählen von realen Ereignissen

Warum halten sich Mythen so lange?

Der Pocahontas-Mythos ist nützlich für den Kolonisator, weil der seine Gewalttat durch die Einkleidung in eine Liebesgeschichte viel angenehmer erzählen kann. Diese Geschichte lässt den Kolonisator im Lichte eines bewunderten Geliebten erscheinen. Das erzählt man dann lieber als Mord und Totschlag.

Und immer wieder rechtfertigt der Kolonisator seine Landnahme über eine Frau?

Ja, die Grunderzählung von der Pocahontas-Reihe ist die, dass ein Kolonisator kommt und dass behauptet wird, die Königstochter des kolonisierten Landes, bei Pocahontas ist das Amerika, läuft zu ihm über, verrät ihren Vater und übergibt mit ihrem Körper das Land dem Kolonisator. Der Kolonisator bedarf der Hilfe der Frau für seine Landnahme. Das ist eine mehrere tausend Jahre alte Geschichte, die in Europa immer weitererzählt wurde, bis hin zu John Smith und seiner Landnahme in Amerika. Es wird erzählt, Pocahontas habe ihm 1623 in Jamestown derart geholfen, wie 3.000 Jahre vorher Medea dem Jason oder in Mexiko die Malinche dem Cortés.

Dieser immergleiche Mythos hat sich bewährt?

Der hat sich bewährt. John Smith erzählt das so mit Pocahontas, auch weil er die Medea-Geschichte kennt. Die Kolonisatoren waren auch Schlächter, aber längst nicht so dämlich, wie sie oft dargestellt werden. John Smith hat in seinen Schriften ständig Bezüge auf Ovid; die Medea kennt er aus dessen Metamorphosen.

Die Eroberer haben vergewaltigt und sich die Geschichte hinterher schöngeredet?

Ja. Beim Essen, am Lagerfeuer erzählen sich die Leute, Einwanderer, zunächst ihre Eroberungsgeschichten. Zur „griechischen Mythologie“ werden die Erzählungen erst, indem sie ihre eigenen Taten als Göttertaten beschreiben. Erst später werden sie aufgeschrieben, kanonisiert. Die Landnahme, die Gewalttaten und die Kolonisation gehen über in eine neue Zivilgesellschaft.

Und wie haben sie das gemacht?

Entweder à la Nordamerika, wo die Engländer Ehen mit Indianerinnen verbieten, dann vermischt sich die Gesellschaft nicht, sondern bleibt getrennt. Dieses – fortgeführt an den afrikanischen Sklaven – ist die Grundlage des heutigen Rassismus in den USA. Oder man macht es wie in Mexiko: Cortés fördert von Anfang an eine Vermischungspolitik, die „mestizaje“, auf die die Mexikaner bis heute stolz sind. Dann werden die Erzählungen friedlicher. Den Spaniern gelang es, den Mexikanern ihren katholischen Marienkult aufzuzwingen, dann aufzuschwatzen. Es gibt kaum mexikanische Atheisten. Das sind Folgen unterschiedlicher Erzählungen dieser Kolonialverfahren.

Und die Griechen waren so genial, ihre Taten gleich zu Taten von Göttern – Dionysos, Zeus, Poseidon – umzulügen?

Ja. Nach einer Weile lösen sich die Geschichten sowieso von dem realen Ereignis und werden handhabbar als Göttererzählungen. Medea und Zeus, der die Alkmene schwängert, toben bis heute durch unsere Theater. In der Regel, um die Grundlagen „unserer Kultur“ zu verdecken: Kolonialismus und Sexismus.

Ist heutige Landnahme friedlicher, unpersönlicher, technokratischer? Aus Afghanistan oder dem Irak hört man nicht von Vergewaltigungen.

Heutige Landnahmen brauchen die reale Königstochter nicht mehr. Auch nicht die Erzählung. Die Vergewaltigungen gehen unabhängig davon weiter. Es gibt keine Armee, keine Blauhelme, keine US-Truppen, die nicht vergewaltigen. Das wird zwar abgestritten, aber Vergewaltigungen gehören zum zugestandenen Verhaltensspielraum für erobernde Soldaten. Der Spaß am Töten gehört zum Krieg. Soldaten loszuschicken impliziert Mord und Vergewaltigung. Immer.

Ist das ein männliches Prinzip? Absolut. Das ist die Gratifikation, der Spaß, den die Soldaten dafür kriegen, dass sie am nächsten Tag selbst umgelegt werden könnten.

Ein Naturgesetz?

Es gibt kein in der Natur angelegtes unterschiedliches Männer- und Frauenverhalten. Die Differenz ist seit mehr als 10.000 Jahren kulturell angelegt. Aber kulturell angelegte Verhaltensweisen geben sich ebenso weiter wie biologische. Das Soziale wird zur „Biologie“. Der muskulär angelegte Körper des Mannes neigt zur motorischen Abfuhr. Und er ist immer von Zerfall bedroht; der Panzer ist brüchig, weil psychisch ungenügend gestützt. Ich nenne ihn den Fragmentkörper. In der Regel tragen ihn Leute, die als Kind oder später so behandelt wurden, dass sie überwiegend negative Körpergefühle haben. Sie können sich nicht in einer libidinös besetzten, ausgeglichenen Ganzheit wahrnehmen. Dieser Fragmentkörper heilt sich kurzfristig über Gewaltakte, und das ist überwiegend ein Verfahren männlicher Körper.

Das hört sich nach frühem 20. Jahrhundert an. Gibt es den Fragmentkörper immer noch?

Ich denke schon. Deutlich sichtbar wird er etwa in Zusammenhang mit Alkohol oder anderen Drogen. Bei betrunkenen Jugendlichen fällt die Psyche regelrecht auseinander. Der Zusammenhalt ihrer Körperlichkeit bricht weg. Sie werden aggressiv gegen andere, sie wissen nicht mehr, was sie sagen, sie brüllen herum und notfalls bewaffnen sie sich mit Knüppeln. Das sind nicht nur NS-Neo-Idioten, die zu Gewaltakten neigen, sondern viele sogenannte normale Jugendliche auch. So wie der männliche Körper auch zerfällt, wenn seine Gruppe zerbricht. Ehe sie sich dann selber zerfleischen, suchen sie sich einen anderen, schlagen den zusammen und fühlen sich in dem Moment heil, ganz, stark. Das wäre die momentane „Selbstheilung“ des Fragmentkörpers.

In Berlin lief gerade der Prozess gegen drei Jugendliche, die Jonny K. so zusammengeschlagen haben, dass er starb. Neigen eher Kinder und Jugendliche aus unteren sozialen Schichten zu solcher Gewalt?

Meistens, aber nicht nur. Die weißen Jungen, die mit der Knarre in die Schule gehen und zwanzig Leute abknallen, sind Mittelklasse. Aber es ist noch kein Mädchen mit einer Pumpgun losgezogen. Diese Sorte Gewalt ist überwiegend ein männliches Problem.

Warum?

Das ist eine über Jahrtausende eingeübte motorische Abfuhr. Schießen ist ein motorischer Akt, wenn der soldatische Mann an seinem MG liegt und abdrückt, fühlt er sich als ganzer und heiler Mann.

Das ist wie wichsen?

Es wirkt wahrscheinlich stärker. Und: Noch keine Frau hat das je so beschrieben.

Die hat ja auch nicht so ein Gerät.

Männer brauchen offensichtlich das Gefühl des Zusammenwachsens mit dem Gerät, um zu einer körperlichen Ganzheit zu kommen. Das geht nicht nur mit Waffen, sondern dem ganzen elektronisch-technologischen Brimborium, das heute die Körper zur „Ganzheit“ komplettieren muss. Die motorische Abfuhr hat sich verfeinert. Frauen werden in der psychischen Verarbeitung hingegen – immer noch – eher depressiv. Sie richten Aggressionen nach Innen. Da die meisten Männer heute nicht mehr beim Militär sind und nicht schießen können, organisieren sie die motorische Abfuhr etwa über Sport. Beispielsweise Anders Behring Breivik, der norwegische Utøya-Killer. Laut seinem Selbstbericht ist er jahrelang in Muckibuden gelaufen – nicht um abzunehmen, sondern um sich Muskeln anzutrainieren. Vor dem Attentat schreibt er, habe er fünf Kilo zugelegt und fühle sich topfit. Er trainierte auf das Attentat hin.

Sind Gewalttäter einsame Wölfe?

Gewalt hat immer mit Isolation zu tun. Die Leute, die in Gruppen gewalttätig werden, sind immer furchtbar isoliert. Das sind keine wirklichen Freunde, deswegen richtet sich ihre Gewalt auch leicht gegeneinander, wie etwa die Aussteiger aus den Neonazigruppen berichten. Sie sind immer kurz davor, ihrem Leader an die Gurgel zu gehen und sich gegenseitig eins in die Fresse zu hauen.

Wie reagieren sich Intellektuelle ab? Politiker, Journalisten, Lehrer?

Die setzen sich an den Biertisch und machen Leute zur Sau. Die machen das mit Klatsch.

Die Talkshow als Aggressionsabfuhr?

Auch. Aber der Biertisch ist in der Regel schlimmer. Klatsch und Intrige sind mörderische Mittel.

Wir dachten, Deutschland hätte die Gewaltorgien von Krieg, Flucht, Vertreibung inzwischen aufgearbeitet. Sind wir nicht die netten, liberalen Deutschen geworden?

Der Giftpegel ist gesunken. Eine ganze Menge Eltern aus meiner Generation und danach hat versucht, Druck und Gewalt in der Erziehung zu vermeiden. Viele der heute 25- bis 40-Jährigen wurden nicht mehr zu Hause geschlagen. Viele haben auch nicht mehr den militärischen Drill durchlaufen, der zum Ziel hatte, den zerstörten Körper noch weiter zu zerstören und ihm dann anzubieten, sich über Gewaltanwendung wieder zusammenzusetzen.

Was fragmentiert den Körper heute?

Man sieht es unter anderem an der enormen Konkurrenz unter Jugendlichen. Nach den Attentaten an Schulen wie in Erfurt fällt auf, dass die Schüler bei Befragungen, was denn das Übelste an der Schule ist und was einen dazu bringen kann, so was zu machen, zu achtzig Prozent antworten: die Konkurrenz untereinander. Es besteht keine Solidarität, sondern Feindschaft. Diese Selektion erleben die Jugendlichen auch als Todesdrohung. Sie äußert sich in Albträumen oder in Angstanfällen. Ihr Körper ist psychisch nicht stabil genug, das auszuhalten.

Konkurrenz als Körperzerstörung?

Ja, aber es fängt früher an. Die heutigen Jugendlichen, die nicht geprügelt wurden und sich trotzdem isoliert fühlen oder auch Schwierigkeiten haben, eine Freundin zu finden oder eine Beziehung zu haben, sind sehr oft von den Eltern alleingelassen worden, auf welche Weise auch immer. Oder die Jugendlichen haben punktuelle Gewalttätigkeiten erfahren. In der Kinder- und Jugendpsychoanalyse ist bekannt, dass Zusammengeschrienwerden genauso schlimm sein kann wie wirkliche Prügel.

Womit und wie kann sich der fragmentierte Körper helfen?

Alleine kaum. Wenn so eine Zerstörung im Körper ist, geht es nur mit Hilfe von anderen. Die Hilfe von anderen – das sind Freundschaften, Liebesbeziehungen, freundliche Zusammenarbeit in Gruppen, geteilte Erfahrungen mit Musik und anderen Künsten.

Würden Sie sagen, dass unsere Gesellschaft weiblicher und freier geworden ist?

Natürlich! Kein Vergleich mit den Sechzigern. Dass Frauen im Beruf noch nicht in so hohe Positionen kommen, wie sie sollten, stimmt. Aber auf der ganzen mittleren Arbeitsebene gibt es kaum Unterschiede zwischen Frauen und Männern – außer in der Bezahlung. Aber im Alltagsverhalten geht es in Richtung Gleichbehandlung.

Was halten Sie von der Frauenquote?

Sie löst das Problem der Ungleichheit nicht. Wenn man in Institutionen, die männlich organisiert sind – und das sind fast alle Institutionen –, Frauen in Führungspositionen bringt, werden diese Frauen die üblichen Verhaltensweisen in diesen Institutionen annehmen. Und die sind eben männlich dominiert. Merkel als Kanzlerin ist eine genauso gute Machtkämpferin und Lügnerin wie Kohl. Die Institutionen sind viel zu stark, man kann darin als einzelne Frau agieren, sie aber nicht verändern. Man kann auch nicht persönlich als „schwarzer Präsident“ agieren, wie sich jetzt gezeigt hat. Wer kommt auf die Wahnsinnsidee, mit einem schwarzen Präsidenten sei der US-Rassismus überwunden? Achtzig Prozent der Gefängnisinsassen in den USA sind Schwarze.

Sind Sie also gegen die Quote?

Nein, ich bin trotzdem dafür. Sie ist ein wichtiger Schritt und hält das Problem am Kochen.

Heute schicken wir unsere Soldaten nicht mehr zur Landnahme, sondern offiziell zur Befreiung der unterdrückten Frauen: wie Fischer damals nach Afghanistan. Seit wann interessiert sich Josef Fischer für Frauen außer in der Horizontalen? Ist das der neue Mythos?

Ja, und jetzt laufen mehr Frauen mit Burka herum als vorher, weil sie Angst haben, sich ohne zu zeigen: Fischers Frauenbefreiung. Überhaupt bestand Schröder/Fischers Aufgabe in der Kanzlerschaft vor allem darin, die Bundeswehr aus ihren grundgesetzlichen Fesseln zu befreien: die Bundeswehr einsatzfähig zu machen für Außeneinsätze. Die afghanischen Frauen? Von solchen menschlich-persönlichen Beziehungen habe ich bei Fischer nie etwas gesehen. Für mich war der ein Machtidiot, ein nützlicher.

Ist Macht heute vor allem mit Geld gleichzusetzen?

Zu einem großen Teil, ja. Es reicht aber anscheinend nicht, wenn die Leute heute ihre Villa haben oder ihren Privatjet. Sie wollen mehr. I can’t get no satisfaction ist voll gültig. Die ihr Bedürfnis direkt mit Gewalt befriedigen wollen, schließen sich mit einer Mafia kurz. Oder werden Minister und suchen sich Kriege. Machtausübung ist eine Form von Idiotie und deutet immer auf zerstörte Körper; deutet darauf hin, dass dies Leute sind, die keine vernünftigen, keine sie tragenden Beziehungen haben.

Persönliche Beziehungen?

Die sind die Bewährungsprobe. Es gibt keine Beziehung, die frei von Gewalt ist. Es gibt immer Interessenkonflikte, wo der eine zurückstecken oder nachgeben muss. Das kann man als Gewalt erleben. Aber die Frage ist: Wie geht man damit um? Platzt einem der Kragen? Haut man drauf oder fängt man an, das zu bearbeiten? Gleichheit bekommt man nur auf privater Ebene hergestellt.

Beziehungsarbeit also. Haben Sie einen Mythos parat, der uns diese Arbeit veredelt?

Nein. Was früher Götter waren, sind heute Menschen.

 Ulrike Fokken ist taz-Autorin. Edith Kresta verantwortet die taz-Reiseseiten. Beide leben in Berlin

 Olaf Ballnus lebt als Fotograf in Hamburg