Zwischen Biblis und Brunsbüttel
Der Protest erreicht die Konservativen

WIDERSTAND Eine Menschenkette an der Unterelbe, Demos in Ahaus und Biblis – die Anti-Atom-Proteste mobilisieren an diesem Samstag Zehntausende. Die Bewegung organisiert Sonderzüge, Konzerte, Online-Börsen und Videos. Vier Gründe, warum sie so erfolgreich ist

■  Hamburg: Entlang der 120 Kilometer langen Strecke zwischen den AKW Brunsbüttel im Norden und Krümmel im Süden soll sich am Samstag quer durch Hamburg eine Anti-Atom-Menschenkette ziehen. Streckenposten stehen ab 12.30 Uhr bereit, ab 13.30 Uhr wird es Kundgebungen, Konzerte und Aktionen geben. Der Kettenschluss ist für 14.30 Uhr geplant. Streckenverlauf und Infos: www.anti-atom-kette.de

■  Biblis: Um 12.30 Uhr soll am Samstag das AKW Biblis „umzingelt“ werden. Mehr auf: www.anti-atom-umzingelung.de

■  Ahaus: Am Zwischenlager Ahaus werden zur Protestkundgebung um 12.30 Uhr bis zu 5.000 Demonstranten erwartet. Mehr unter www.kein-castor-nach-ahaus.de

■  Alle News: taz-Liveticker ab Samstag, 9 Uhr

„Wir haben die Kernenergie als ‚Brückentechnologie‘ definiert und festgehalten, dass die Brücke endet, wenn die erneuerbaren Energien verlässlich die Kernenergie ersetzen.“ Dieser Satz stammt nicht von Sigmar Gabriel (SPD), auch nicht von Jürgen Trittin (Grüne), sondern von deren Nachfolger im Amt des Umweltministers: Norbert Röttgen (CDU) hat klar gemacht, dass die „Kernenergie“ in jenem Maße zurückgehen werde, „in dem die Erneuerbare sich aufbauen“. Röttgen steht mit dieser Meinung in seiner Partei nicht allein da. Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht etwa stimmte Röttgen „voll und ganz zu“. Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) erklärte: „Wir müssen eine Zukunft ohne Kernenergie erfinden.“

Natürlich musste Röttgen für die „Brückentechnologie“ viel Kritik einstecken: So erklärten die CDU-Umweltministerinnen der Atomstandorte Hessen und Baden-Württemberg, Silke Lautenschläger und Tanja Gönner, eilig: Atomkraft sei in Deutschland „über das Jahr 2022 hinaus“ unverzichtbar. Aber der Streit innerhalb der Union zeigt, dass der Anti-Atom-Protest längst Spuren im bürgerlichen Lager hinterlassen hat: Die Atomtechnik ist nicht einmal mehr hier unumstritten.

NRW-Wahl stellt die Weichen

Natürlich werden Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel sich an diesem Wochenende in die Menschenkette einreihen: Seht her, wir sind bereit für Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen – und wir werden im Falle der Regierungsübernahme den Atomkonsens verteidigen. Zwei Wochen vor der Landtagswahl in NRW ist der Ausgang völlig offen. In der jüngsten Forsa-Umfrage fielen die Grünen um 2 Prozentpunkte auf 9 Prozent zurück. Die derzeitigen Koalitionsparteien CDU (38 Prozent) und FDP (8 Prozent) kamen in der Umfrage zusammen auf 46 Prozent und liegen demnach vor SPD (34 Prozent) und Grünen, die 43 Prozent erreichen.

Würde Rüttgers’ Koalition mit der FDP in Düsseldorf am 9. Mai abgewählt, hätte das auch Konsequenzen für den Ausstieg: Die Mehrheit von Union und FDP im Bundesrat wäre dahin. Und egal, ob Rot-Grün in Düsseldorf das Zepter übernimmt oder Rüttgers sich seine Macht künftig mit den Grünen sichern will: Eine Änderung des Atomausstiegsgesetzes ist zustimmungspflichtig im Bundesrat. Falls aber Rüttgers mit der FDP weiter regieren kann, ist eine Laufzeitverlängerung sicher: Die Regierung lässt bis Herbst untersuchen, ob die AKW acht, zehn oder 20 Jahre länger laufen sollen.NICK REIMER

Das Bündnis verbindet viele Schichten

Das Gemeindehaus der Auferstehungskirchengemeinde Hamburg-Lurup liegt an der Straße, durch die sich am Samstag die Menschenkette zieht. „Wir sind für grünen Strom“, sagt Pastorin Ada Woldag, die sich mit der Gemeinde an der Kette beteiligen will. Damit sich auch Senioren einreihen, stellen sie Stühle an die Strecke. Mit dabei sind Gewerkschaften, Parteien, Attac, deren Jugendorganisationen – und auch die spirituell-feministischen „Mondschwestern“ aus Hamburg. Und natürlich die Bauern aus dem Wendland.

Ist Handanfassen nicht out?

„Ist Handanfassen nicht total Achtziger?“, hatte man sich bei der Planung der Menschenkette gefragt, erzählt Jochen Stay, einer der Sprecher der Organisatoren. „Da waren wir selbst unsicher.“ Doch bei den Probe-Menschenketten, an denen insgesamt 8.000 Menschen teilnahmen, „fanden die Leute das gut“. Die Älteren fühlten sich „an früher“ erinnert.

Nicht alle sind so begeistert. Die Vollzeitaktivistin Hanna Poddig von „contratom“ fährt beim „Treck nach Krümmel“ mit. „Wir sind keine Fans der Menschenkette“, sagt Poddig. Ein „konsumierbarer halber Tag“ reicht ihr nicht. Poddig stört sich am „Bewegungsunternehmertum“, das in den letzten Jahren von den Organisatoren „ausgestrahlt“ und Campact etabliert wurde. Christoph Bautz von Campact widerspricht: „Da waren Leute erst bei unseren Flashmobs und haben danach angefangen, sich in der lokalen Anti-Atom-Gruppe zu engagieren.“ Campact gehe es darum, auch Menschen, die im Berufsleben stünden, für politisches Engagement zu begeistern.

Damit Schwarz-Gelb Gorleben nicht „zum Endlager macht“, wie viele befürchten, muss es der Bewegung gelingen, die Bundesregierung in der Atomfrage zu spalten – ein fast unmögliches Unterfangen. Gerade deswegen laden die Organisatoren „atomkritische Anhänger von CDU und FDP“ zur Menschenkette ein. Um die im Trägerkreis beteiligten Parteien SPD, Grüne und Linke gab es hingegen im Vorfeld Gerangel: Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel wollten ursprünglich eigentlich beide auf derselben Bühne sprechen – doch das erschien dem Trägerkreis nicht als sinnvoll. Gesine Agena, Sprecherin der Grünen Jugend, findet die Heterogenität der Bewegung und den ständig aufbrandenden „Parteienstreit“ nicht schlimm. „Langfristig kämpfen wir alle für das Gleiche“, sagt Agena. „Die einen machen Aktionen vor Ort und die anderen eben eine Menschenkette.“JULIA SEELIGER, JULIA HENKE

Das Internet bringt die Aktivisten zusammen

Sonderzüge, Mitfahrgelegenheiten und Busse – viele Verkehrsmittel führen Demonstranten aus ganz Deutschland zur Menschenkette zwischen Brunsbüttel und Krümmel. Ohne das Internet wäre es ungleich komplizierter, die Großdemonstration zu organisieren. Listen und interaktive Landkarten informieren etwa online darüber, wann Sonderzüge starten und wo Busse abfahren. „Die Servicegeschichten sind extrem wichtig“, sagt Jochen Stay von der Organisation „Ausgestrahlt“. Neben der Anreise wird im Netz auch erklärt, wie der Verkehrskollaps vermieden werden soll: möglichst keine Nahverkehrszüge nehmen, die Hamburger Innenstadt meiden, vorgegebene Parkplätze nutzen. Wer demonstrieren möchte, muss offenbar kaum noch etwas selbst planen.

Mit Facebook, Twitter und StudiVZ

Beworben wird die Menschenkette im Internet ebenfalls intensiv – nicht nur über E-Mail-Verteiler. Die digitale Form der Mund-zu-Mund-Propaganda läuft über den Kurznachrichtendienst Twitter und andere soziale Netzwerke. Wo im Normalfall ein kleines Foto des Nutzers erscheint, prangt nun auf einigen Profilseiten die rote Anti-Atom-Sonne oder ein Werbeplakat der „Kettenreaktion“. Im Veranstaltungskalender des weltweit größten sozialen Netzwerks, Facebook, taucht die Demonstration gleich mehrfach auf. Wenn man sich auf die Gästelisten verlässt, werden sich rund 1.900 Facebook-Mitglieder in die Menschenkette einreihen. Auf der Plattform StudiVZ zählt die größte Kettenreaktionsgruppe etwa 1.100 Mitglieder.

Ein wichtiges Hilfsmittel sind auch Videoclips. „Ausgestrahlt“ warb unter dem Motto „Jeder Meter zählt“ in 170 Kinos für die Teilnahme. Der Clip wurde außerdem im Internet bei YouTube und anderen Videoportalen eingestellt. 12.750-mal sahen ihn bis gestern Internetnutzer an. Noch erfolgreicher war ein Video der Aktivisten von Campact. Deren Clip „Kettenreaktion“ wurde seit vergangenem Monat mehr als 93.000 Mal aufgerufen. Das Besondere daran: Er ist personalisierbar, bei Eingabe eines Namens taucht dieser im Clip auf. Laut Marketing-Experten ein besonders gutes Mittel, um sich von anderer Werbung abzusetzen.

Klassischen Werbemitteln wie Infoständen, Flyern oder Zeitungsanzeigen hat das Internet keineswegs den Rang abgelaufen. Demonstranten werden auch dadurch mobilisiert. Die große Resonanz der überregionalen Presse fällt besonders auf. So berichteten neben der taz etwa auch Zeit und Spiegel ausgiebig über die Aktion. JENS KLEIN, THOMAS SCHMID

Die Öko-Wirtschaft als Helfer und Sponsor

Das hat es bei den Protesten vor dreißig Jahren nicht gegeben, auch nicht vor zehn, doch bei der Anti-Atom-Demonstration vergangenen Herbst in Berlin waren sie in großer Zahl dabei: die VertreterInnen aus der Wirtschaft, genau genommen handelte es sich um die MitarbeiterInnen aus der Erneuerbare-Energien-Branche.

Die Wind-, Solar- und Bioenergieindustrie ist eine der wenigen, die derzeit boomt. Mit fast 300.000 Arbeitsplätzen beschäftigt sie inzwischen mehr als zehn Mal so viele Menschen wie die Atomindustrie. „Schon bis zum Jahr 2020 können die Erneuerbaren Energien rund die Hälfte des deutschen Stromverbrauchs decken und damit den Atomausstieg mehr als kompensieren“, rechnet Dietmar Schütz, Präsident des Bundesverbands Erneuerbare Energie (BEE), vor. Diese Rechnung hält auch das Umweltbundesamt für realistisch. Allerdings sind dem rasanten Wachstum Grenzen gesetzt. Die Branche kann nur so zügig weiterwachsen, wenn die Atomindustrie nicht noch zusätzlich Strom produziert. Schon jetzt gibt es Überkapazitäten. „Längere Laufzeiten für Kernkraftwerke blockieren den Ausbau der erneuerbaren Energien“, so Schütz.

Im Lichtblick-Sonderzug zur Demo

Und so ist es kein Wunder, dass nicht nur der BEE zur Menschenkette am Samstag aufruft, sondern auch einzelne Firmen selbst. Einige Solarunternehmen schicken Firmenbusse. Andere führen auf der Demo ihre neuesten solarbetriebenen Autos vor. Und die Ökoenergieunternehmen Lichtblick und Greenpeace Energy beteiligen sich finanziell an den Sonderzügen nach Biblis und Hamburg. Die Elektrizitätswerke Schönau haben sogar den Anti-Atom-Kinospot gesponsert.

Inzwischen sind auch die großen Gewerkschaften dabei: Waren es in der Vergangenheit gerade einmal die Gewerkschaftsfunktionäre im Mittelbau, die die Atomkraft ablehnten und die Proteste dagegen unterstützten, hielt sich die Gewerkschaftsspitze aus Rücksicht auf die Kumpels in den Kohlengruben und die Kollegen in der Nuklearindustrie zurück. Nun aber hat sich auch dort das Blatt gewendet. Regenerative Energiequellen seien massiv auszubauen, fordert Dietmar Hexel vom Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Das verspreche Innovationen, gute Renditen und zukunftsorientierte Arbeitsplätze. „Atomkraft ist keine Zukunftstechnologie“, sagte Hexel. Auch die Gewerkschaften haben Busse für die Fahrt zur Menschenkette organisiert.FELIX LEE