Herr Shahyar sucht die Revolution

WUT Es ist so still in Deutschland. Die Straßen leer, der Protest überschaubar. Nur die Sehnsucht scheint groß: Nach einem Aufbruch. Vielleicht sogar der globalen Revolte? Eine Spurensuche in Kairo, Istanbul und Hanau

■ Die Person: Pedram Shahyar, 40, wurde im iranischen Schiras geboren. Seine politisch verfolgten Eltern flüchteten mit ihm nach Köln, als er zwölf war. Der studierte Literatur- und Politikwissenschaftler lebt heute in Berlin, gibt Tangokurse und betreibt eine kleine „Social Media Agentur für emanzipatorische Inhalte“.

■ Die Reisen: Als Blogger und Aktivist fährt er an Revolutionsstätten weltweit. Shahyar besuchte Platzbesetzungen in Madrid, Demonstrationen in Buenos Aires, Gipfelproteste in Evian oder Prag. In seinem Blog pedram-shahyar.org beschreibt er seine Erfahrungen. Shahyar ist Mitglied bei Attac und in der linksradikalen Interventionistischen Linken.

VON MARTIN KAUL

Es ist diese Stille.

Ein erdfarbener, rostiger Trecker, verlassen am Feldrand. Nur der ICE rauscht, schschsch. Ein ruhiger See, keine Boote darauf. Schschschsch. Ein Bahnhof. Ein Örtchen, ein Bahnhof, ein Feld, noch ein Feld, Ort, Bahnhof, Feld.

ICE 375, Wagen 7, Platz 41. Am Fenster sitzt Pedram Shahyar, er muss sich gleich noch rasieren. „In Kürze erreichen wir Hanau.“

Pedram Shahyar will nach Hanau, um von der Revolution zu berichten.

Das hat damit zu tun, dass es bei vielen Menschen in Deutschland diese Sehnsucht gibt. Nach mehr. Sie ist etwas diffus, vielleicht auch bloße Romantik. Und sie speist sich aus einer Beklemmung.

Am 25. Januar 2011 besetzten Tausende Demonstranten den Tahrirplatz im Herzen Kairos. Er wurde weltweit zum Symbol eines neuen Aufstands. Man nannte es Arabellion.

Am 15. Mai 2011 gingen in Spanien in 58 Städten Zehntausende Menschen auf die Straßen, besetzten die Puerta del Sol in Madrid, skandierten: „Echte Demokratie jetzt!“ Man nannte sie die „Empörten“.

Am 17. September 2011 stürmten Globalisierungskritiker in New York den Zuccotti Park. Sie nannten sich Occupy Wall Street.

Sie alle gingen auf die Straße, besetzten Plätze, protestierten spontan. Ermutigte Aktivisten und schlagkräftige Kollektive. Die Meldungen aus den Metropolen der Welt reißen nicht ab.

Nur in Deutschland ist davon wenig zu spüren.

Wenn aus Berlin Nachtbilder zu sehen sind von dunklen Straßenzügen, hell erleuchtet von Feuern und Funken, dann sind es entweder Fotos eines kitschigen Rituals in Berlin-Kreuzberg am 1. Mai, das bereits am 2. Mai wieder vorbei ist. Oder es sind Fotos von Schienenreparaturen, von Schweißarbeiten am Straßenbahnnetz.

Wer diese Ruhe in Deutschland verstehen will und den Lärm anderswo, der sollte vielleicht den Spuren von Pedram Shahyar folgen. Pedram Shahyar bereist die globale Revolte.

Flughafen Berlin-Tegel, Flugnummer TK 1726, Airbus A 320. Ein Freitag um 14.50 Uhr. Pedram Shahyar hat seine Mutter angerufen und ein paar Freunde, um sich zu verabschieden. Das macht er immer so, bevor es losgeht. Er sitzt am Fenster. Auf der Speisekarte steht Turkish Style Minced Beef mit Bulgur, ein Gurken-Tomaten-Salat, zum Nachtisch Mousse au chocolat.

Wenn er in 14 Tagen von seiner Reise zurückkehrt, dann wird es auf seinem Facebook-Account ein paar neue Fotos von ihm geben. Shahyar vor einem Panzer am Tahrirplatz in Kairo. Darüber wird er schreiben: „Posen vorm Panzer“. Ein Selbstporträt, mit ausgestrecktem Arm und Handykamera geschossen. Aus der gleichen Reihe: Shahyar bei Protesten in Madrid. Shahyar auf einer Demonstration in Buenos Aires. Shahyar im Gezipark in Istanbul. Meist lacht er auf diesen Bildern.

Es ist Anfang August, kurz bevor in Ägypten die Lage völlig eskaliert. Das Militär hat Machthaber Mohammed Mursi gerade aus dem Amt gejagt. Seine Anhänger haben sich in Protestcamps verschanzt. Jeden Tag könnten die Zeltlager geräumt werden. Jeder weiß: Es wird ein Massaker geben, wenn das passiert. Pedram Shahyar weiß das auch.

Er ist gekommen, um Revolutionäre zu treffen. Aufmüpfige, Gestärkte und Enttäuschte, alte Bekannte, die dabei waren, als am 25. Januar 2011 der Tahrirplatz besetzt wurde.

Pedram Shahyar ist ein Aktivist und so etwas wie ein Bewegungskorrespondent. Er hält Vorträge, schreibt Reiseblogs und Protestanalysen. Er reist durch die Welt, um zu verstehen: Gibt es eine globale Revolte? Und was hat Deutschland damit zu tun?

Denn es gab eine Zeit, da war die Stimmung in Deutschland noch anders. Das war um die Jahrhundertwende. Die Zeit der Globalisierungskritiker und Gipfelproteste, als viele Menschen von Seattle sprachen, von Genua. Es war die Zeit von Attac. Irgendwie dachte man in dieser Zeit, das sei der Beginn eines globalen Wandels und Deutschland nehme daran teil.

Shahyar gab damals Seminare mit Arbeitstiteln wie „Ziviler Ungehorsam“, freundlich, mit zugewandtem Lächeln. Überlegen, aber nicht arrogant. Er zitierte Leo Trotzki, John Holloway, die Zapatisten. Mehrheiten zählt man nicht, Mehrheiten erringt man. Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Und: Fragend schreiten wir voran.

Pedram Shahyar organisierte in Ostdeutschland Arbeitslosenproteste gegen die Hartz-IV-Reformen der Schröder-Regierung. Er saß bei den G-8-Protesten in Heiligendamm in der Schaltzentrale des Widerstands. Und er war es, der Heiner Geißler vor laufenden Kameras ein leeres Blatt Papier überreichte und behauptete, es sei ein Aufnahmeantrag für Attac. Geißler nahm die Einladung an. Er trat Attac bei. Schlagzeilen.

Shahyar war bei fast allen Protesten dabei, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten groß und wichtig waren in Deutschland. Heute besucht er immer noch Großproteste. Aber die wichtigsten findet er im Ausland.

Pedram Shahyar sagt von sich, er sei Teil einer globalen Avantgarde.

Kairo, 34 Grad Celsius, ein Nachmittag im August. Hier, in der Mohammad-Mahmud-Straße, in Laufweite zum Tahrirplatz, kamen viele wie er ums Leben. Leute, die für etwas kämpften.

Pedram Shahyar läuft übermüdet durch die Straßen, er trägt eine Sonnenbrille. Er schwitzt, reißt Witze. Abdelrahman Medhat führt ihn herum.

Medhat ist 17 Jahre alt. Er trägt ein rosafarbenes T-Shirt und hat dunkles, lockiges Haar. Medhat ist Graffiti-Aktivist. Als er 15 Jahre alt war, stand er vor einem Militärgericht. Er hatte demonstriert – das gab ein Jahr auf Bewährung. Medhat war damals der Jüngste von Hunderten Angeklagten. Er ist eines jener Gesichter, die in Ägypten für demokratischen Aufbruch stehen. Jung und weltoffen, ein Kämpfer für Frauen- und Menschenrechte.

Abdelrahman Medhat verleiht seinen toten Freunden neue Gesichter. Seit zwei Jahren, seit Beginn der Revolution, trauen sich einige junge Ägypter wie er mit Sprühdosen auf die Straßen. Hier, in der Mohammad-Mahmud-Straße, zeigt er mit dem Finger auf die Wände, die er und seine Freunde gestaltet haben. Sie sind voller Namen und Gesichter. Viele der Abgebildeten, meist jungen Männer, tragen Engelsflügel.

Sie alle sind bei Protesten auf der Straße gestorben. Mal erschossen, mal durch Messerstiche in den Bauch.

Es ist erst fünf Tage her, dass wieder ein Freund von Medhat getötet wurde. Gemeinsam hatten sie eben noch Graffitis gesprüht, Porträts getöteter Aktivisten auf die Wände der Stadt. Nun prangt sein Freund selbst an dieser Wand, auf grünem Hintergrund.

Abdelrahman Medhat könnte hier auch bald ein Bild bekommen.

Hat er keine Angst, wenn er demonstrieren geht?

Medhat versteht die Frage nicht.

Na, Angst. Es könnte doch auch ihn treffen.

„Natürlich könnte es mich treffen. Aber wieso Angst?“

Was fühlt er, wenn er demonstrieren geht, wenn geschossen wird? Schwingt da nicht immer die Frage mit, ob sich der Kampf für ein besseres Ägypten wirklich lohnt? Ob es das persönliche Risiko wert ist?

„Ich verstehe die Frage nicht.“

Wenn er stirbt, sagt er, muss es wohl so sein. Aber das sei doch keine Frage.

Der Tod hat hier ein freundliches Gesicht auf buntem Hintergrund. Ockergelbe Panzer, deren Lack aufplatzt, bewachen die Straßen zum Tahrirplatz. Es geht hier um etwas, um den schmerzhaften Weg zu Freiheit und Demokratie. Ein Weg, auf dem jeden Tag Menschen sterben.

Deutschland: Plena und Verbände. Nur Strategien

Kairo. Acht Millionen Einwohner. Zwei Millionen Autos, fast überall dort, wo Asphalt ist. Die Luft flirrt. Bei jedem Atemzug das Gefühl, der Staub lege sich direkt auf die Lunge.

„Kairo“, sagt Pedram Shahyar, „ist wie Heroin. Schnell, aufputschend, drastisch. Aber es macht dich fertig.“

Shahyar hat noch nie Heroin ausprobiert. Aber er hängt an Kairo. Kairo ist kein Spiel oder Spaß. Kairo ist Revolution.

Kairo ist nicht Verden an der Aller. Ein Örtchen in Niedersachsen, mit Fachwerkhäusern und frischer Luft. 27.000 Einwohner, Pferde auf der Koppel. Am Stadtrand, in den gemütlichen Räumen des Ökozentrums, sitzt so etwas wie die Finanzverwaltung vieler deutscher Aktivistinnen und Aktivisten – die Bewegungsstiftung.

371.000 Euro hat die Stiftung 2012 in Strukturen und in Projekte sozialer Bewegungen in Deutschland investiert. In eine Kampagne für saubere Kleidung, in ein demokratisches Energieprojekt, in eine Initiative, die Oppositionellen in Syrien hilft. Die Bewegungsstiftung arbeitet daran, dass die außerparlamentarische Opposition in Deutschland nicht schwächer wird, sondern stärker.

Aber es gibt etwas, wofür die Bewegungsstiftung nichts kann: die fehlende Aufbruchstimmung in diesem Land. Alles was es gibt, sind Strategien.

Plena, Gesprächsrunden, Telefonkonferenzen. Es gibt Hunderte Kleingruppen, Vereine und Verbände. Es gibt Kletteraktivisten und Ankettaktivistinnen und Bauern, die mit ihren Treckern Straßen blockieren. Es gibt Bewegungsprofis, die dafür bezahlt werden, Internetkampagnen zu entwerfen, und es gibt Wissenschaftler, die dazu forschen. Es gibt eine Demonstration hier und eine Protestaktion da und Hunderte von Petitionen im Internet.

In Deutschland gibt es ein Wort für diese Aktivistenszene, die irgendwie zusammengehört, aber ganz sicher auch irgendwie nicht: Mosaiklinke.

Ihre Stärke ist: Sie besteht aus vielen. Ihre Schwäche ist: Es fehlt ihr an einer gemeinsamen Utopie. An etwas, das man anfassen und umwerfen kann.

In diesem Haus in Verden hat auch eine andere Protestorganisation ihren Sitz. Campact. Ein Kampagnenportal, das Protest organisiert. Es sammelt im Internet Unterschriften und veranstaltet medienwirksame Proteste mit fernsehtauglichen Bildern. Das meiste, wofür Campact kämpft, ist sinnvoll. Aber Campact verkörpert wie die Bewegungsstiftung etwas, das den Zustand des Bewegungsstandorts Deutschland gut bebildert.

Am 18. Januar 2013 demonstrierte Campact vor dem Bundeskanzleramt für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Ein Darsteller mit Merkel-Maske kam auch. Am 14. April demonstrierte Campact in Augsburg beim Bundesparteitag der SPD für die Vermögenssteuer. Zwei Schauspieler, verkleidet als „Superreiche“, traten auf. Am 18. Juni demonstrierte Campact in Berlin gegen ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. Zwei Darsteller mit Merkel- und Obama-Masken waren dabei.

Die Darsteller erhielten für ihre Teilnahme an den Protestaktionen Honorare, mal waren es 100 Euro, mal 200. Campact würde diese Leute niemals „Mietdemonstranten“ nennen, sondern immer „Schauspieler“.

Campact braucht diese Bilder, weil sie Medienereignisse darstellen. Medien brauchen diese Bilder, weil sie die gediegenen Formen des Pluralismus schätzen. Es ist ein Protest aus der Retorte, symbolisch orchestriert. Weil es so wenige Momente echten Aufbegehrens gibt, braucht es Strategien.

Sie tun niemandem weh. Es ist gut, dass es sie gibt. Nur: Was ändern sie wirklich?

„Deutschland“, sagt Pedram Shahyar, „ist wie eine Reha-Klinik. Schön grün und ruhig. Aber tot.“

Shahyar ist nun zum siebten Mal in Kairo, seit 2011 der Aufstand begann. Inzwischen begrüßen sie ihn hier wie einen Freund. Er sitzt in all diesen Nächten in den kleinen Gassen im Zentrum Kairos, wo die Revolutionäre Tee oder Pepsi-Cola bestellen und Wasserpfeifen rauchen, wenn sie es sich noch leisten können. Seit die Touristen ausbleiben, haben sie immer weniger Arbeit. Einer von ihnen hat diese Woche Glück. Er kann bei einem Freund im Laden aushelfen. Das gibt immerhin umgerechnet 40 Euro in dieser Woche. Wieder etwas Geld.

Sonst sitzen sie einfach nur auf den roten Plastikstühlen und reden über die kleinen Dinge des Alltags und über die Revolution. Über den General al-Sisi, der die Macht übernommen hat, über die Muslimbrüder, über die Vergewaltigungen von Frauen während der Demonstrationen. Immer wieder passiert das. Nun gibt es eine Gruppe, die diese Frauen beschützt, damit auch sie mitdemonstrieren können. Darüber reden sie hier.

Pedram Shahyar sitzt zwischen ihnen. Er hat eine herausfordernde Art zuzuhören. Er schaut seinem Gegenüber unablässig in die Augen, unterbricht ihn oft. Er legt ihm eine Hand auf die Schulter oder stupst ihn in die Seite.

Gerade redet ein Ägypter von Basisdemokratie und Asambleas. Wirklich? Hier in Ägypten? Shahyar ist begeistert. Er wirft seine Arme in die Luft, so wie früher, als er die Seminare gab für deutsche Politikstudenten. Ist das hier wirklich ein Teil der globalen Revolte? Sind das nicht Bezugspunkte einer globalen, linken Vision? Die Zapatisten, die Platzbesetzungen, die radikale Demokratie – das sind doch diskursive Einheiten, das sind doch klare Weltbezüge.

Sie sitzen hier bis zum Morgen, bis sechs Uhr in der Früh. Zwei Stunden später wird er auf seinem Hotelbalkon stehen, Gin in der einen, Joint in der anderen Hand. Es sind Nächte wie diese, die Shahyar in die Theoriearbeit treiben.

„Überall auf der Welt gibt es Revolten – und die Deutschen machen die Theorie dazu“, sagt Shahyar. Er lacht. „Die Theoretisierung ist eine Vertiefung der Sucharbeit.“

Die Franzosen brachten die Revolution, Marx und Hegel erklärten, warum.

Wenn er wiederkehrt von seinen Reisen, schreibt er Sätze wie diese:

„Im Zuge einer allgemeinen Bildungsoffensive wurde in den vergangenen Dekaden ein beträchtlicher Teil der Weltbevölkerung mit größeren kommunikativen Potenzialen ausgestattet, um in Zeiten des digitalen Kapitalismus Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Diese neuen Potenziale können aber nicht ausreichend in die kapitalistische Verwertung integriert werden.“

Und:

„Hieraus entsteht eine neue rebellische Subjektivität eines Milieus, das seine Vorstellungen und Wünsche von gesellschaftlicher Gestaltung und eigenem Leben immer weniger befriedigen kann, das arm, aber nicht verarmt ist.“

Er zieht dann Linien zwischen den Metropolen des Aufstands. Er arbeitet die Unterschiede heraus.

„Deutschland verhält sich völlig asynchron zu den Entwicklungen in der Welt. Hier hat das Aufstiegs- und Konsumversprechen für die junge, urbane, gebildete Schicht, die weltweit vielerorts Träger des Protests ist, noch Gültigkeit.“

Ein nächster Tag. Am Tahrirplatz stehen noch immer ein paar heruntergekommene Protestzelte. Ringsumher gibt es Poster mit dem Gesicht des Generals al-Sisi zu kaufen. Shahyar geht hinüber zur El-Galaa-Straße an der Brücke des 6. Oktober. Schnell über die riesige Straße, Vorsicht an der großen Kurve, der Verkehr hier ist die Hölle.

An dieser Stelle geriet er bei einem seiner Besuche in einen Tumult. „Die Demo ging hier entlang. Da fuhren die Panzer in die Menge. Dann schossen die Soldaten.“ Erst sprang Shahyar hinter einen weißen Kleinwagen, blieb eine Weile hocken, dann lief er fort, im Schutz der Menge. Am Abend zählten sie mehr als 200 Verletzte und 24 Tote.

Einer von ihnen war Mina Daniel, ein bunter Vogel, den hier jeder kannte. Wieder ein Gesicht für ein Graffiti.

Pedram Shahyar sitzt in der Lobby seines Hotels. Lobby ist übertrieben. Es gibt ein grünes Sofa und einen braunen Tisch. Er steigt hier immer ab, wenn er in Kairo ist. Er liest die Nachrichten. „In Istanbul hat es geknallt“, sagt er.

Das Ticket für die Türkei hatte er schon vorher gekauft. Im Taxi zum Flughafen läuft die Klimaanlage – und Klaviermusik. Draußen: ein Panzer, ein Luftwaffenstützpunkt. Autos, Stau, Autos, Autos. Dann der Flughafen. Shahyars Pass ist abgegriffen und ausgefranst.

Egypt Air, Gate G8, Airbus 321, Fenstersitzplatz 30K, Richtung Istanbul. Die Türkei, ein kleines Stück zurück in Richtung dessen, was er Reha nennt.

Pedram Shahyar friert. Er riecht nach kaltem Rauch, schläft ein, noch ehe das Flugzeug abhebt. Dreimal fällt er während dieses Flugs mit dem Oberkörper links über, auf den leeren Mittelplatz. Er schläft durch.

Er hat in den letzten drei Nächten nur vier Stunden geschlafen, insgesamt.

In Deutschland schläft es sich ruhiger. Wer hier nach Erklärungen dafür sucht, warum es so still ist, stößt immer wieder auf drei Antworten.

Sie lauten:

„In Deutschland kauft man zum Demonstrieren doch erst eine Bahnsteigkarte.“

Das ist die kulturelle Erklärung. Sie hat mit Preußen zu tun, mit Ordnungsliebe und Disziplin. Und mit einem Misstrauen gegenüber allzu viel Populismus, Wallung, Emotion.

„Es geht den Deutschen nicht schlecht genug.“

Das ist die ökonomische Erklärung. Sie hat mit dem Bruttoinlandsprodukt zu tun, mit relativem Wohlstand, dem Bildungsniveau und mit Verelendungstheorien.

„Die Gewerkschaften sind schuld.“

Diese Erklärung hat mit Organisationsmacht zu tun. Weil die Gewerkschaften so gut eingebunden sind, weil sie nicht über Klassenkampf reden, sondern über Tarifautonomie und Ausbildungsqualität.

In den vergangenen Jahren sind noch zwei Erklärungen hinzu gekommen:

„Wir sind alle im Netz, aber dort sind wir alle alleine.“

„Es fehlt an einem ideologischen Dach.“

Fehlt es auch an Gründen? Deutschland ist das reichste Land Europas. Und zugleich das Land, dass die Löhne am stärksten nach unten drückt. So sehr, dass manche Mutter einen vierten Job annehmen muss. Ohne zu wissen, ob sie im Alter von ihrer Rente leben kann. Aber die deutsche Mutter geht eher nicht demonstrieren. Vielleicht ist sie auch gar nicht so wütend. Vielleicht ist sie einfach nur so erschöpft.

In Istanbul ist es gerade gestern wieder wild gewesen. Demonstration, Polizei, Festnahmen. „Die Ohnmacht ist vergangen“, sagt eine Aktivistin. „Plötzlich war da der Moment, in dem hier jeder wusste: Ja, wir haben die Macht“, sagt Shahyar. „Du musst den Rückhalt der Herrschenden in der Provinz brechen. Aber die Kämpfe werden in den Städten geführt.“

Pedram Shahyar diskutiert an solchen Abenden mit Rechtsanwälten, Künstlerinnen oder Aktivistinnen. Sie erzählen ihm vom Barrikadenbau, von den Protesten mit Kochlöffeln und Töpfen, vom Steinhagel, von Solidarität und ihren Utopien.

Als am 12. Juni ein Pianist sein Klavier auf den Taksimplatz schiebt, um vor Tausenden Demonstranten zu spielen, steht auch Shahyar in der Menge. Mit Gasmaske, Helm, Schutzbrille. Tausende Menschen weinen, das Bild geht um die Welt. Shahyar macht ein Foto für Facebook.

Türkei: ein anrührender Moment. Keine Strategie

Er hatte die Gasgranaten gesehen, die Schlagstöcke, die Festnahmen. Er hatte sich schnell ein Ticket gekauft, Spontantrip in den türkischen Aufstand. Es waren Dutzende deutscher Aktivisten, die in jenen Tagen dorthin flogen. Der Kampf um die Stadt hatte etwas Greifbares, Erreichbares. Das Ticket in den Trubel: kaum mehr als hundert Euro.

TUNESIEN Ein junger Gemüsehändler übergießt sich aus Protest mit Benzin und verbrennt. Tausende Menschen strömen daraufhin auf die Straßen. Er wird zum Gesicht des Aufbruchs in der arabischen Welt

ÄGYPTEN Der Funke springt über. In Kairo strömen zehntausende Menschen zum Tahrirplatz und fordern das Ende der Militärdiktatur. Husni Mubarak wird gestürzt. Hunderte kommen bei den Auseinandersetzungen zu Tode

SPANIEN In vielen Städten protestieren Menschen gegen Jugendarbeitslosigkeit und die europäische Sparpolitik. Die Aktivisten besetzen Plätze und werden zum Vorbild weiterer Proteste in Europa

USA „Seid ihr bereit für einen Tahrir-Moment?“, fragt ein US-Magazin. Vier Tage später besetzen Hunderte den New Yorker Zuccotti Park. Die Bewegung wird unter dem Label „Occupy“ bekannt und kopiert. Auch in Deutschland

GRIECHENLAND Auf einem Athener Platz schießt sich ein Rentner in den Kopf – „bevor ich beginne, den Müll nach Lebensmitteln zu durchsuchen“, schrieb er in einem Brief. Es kommt zu Krawallen gegen die europäische Sparpolitik

TÜRKEI Im Istanbuler Gezipark protestieren Aktivisten gegen den Bau eines Einkaufszentrums. Es kommt zu harten Auseinandersetzungen mit der Polizei. Der Gezipark wird zum Symbol des Widerstands gegen die Regierungsgewalt

Billigflieger statt Bahnsteigkarte.

Im Stadtteil Cihangir schleppte Shahyar sich dann die steilen Treppen hinauf, Tränengaswolken, er konnte kaum atmen. Er wollte an diesem Abend unbedingt auf den Taksimplatz, mit eigenen Füßen dort stehen. Da war er plötzlich wieder Rhadjiv.

Manchmal nennt er sich auch Val oder Mefi. Er mag die Idee, dass er sein kann, wer er will. Als Val schrieb er in linken Postillen kulturkritische Texte über Theater und Lifestyle. Als Mefi treibt er sich nachts in Fetischklubs rum, nachdem er vorher Tango tanzen war, stundenlang. Mefi kommt von Mephisto. Als Rhadjiv trifft man ihn an Brettspielabenden oder bei Straßenschlachten. Das ist Adrenalin.

Shahyar sagt, er habe noch nie einen Stein geworfen, im Ausland erst recht nicht. „Ich bin nicht hier, um die Kämpfe der anderen zu kämpfen. Die wollen das auch gar nicht. Wenn es heiß wird, sagen sie immer: Geh nach hinten.“

Es ist schwer, ihn mal so richtig in Aktion zu sehen. Er steht und fragt und guckt und fragt und lacht und geht.

Nun ist es ruhiger geworden in Istanbul, aber Shahyar ist wieder da. Im Gezipark machen drei Polizisten Mittagspause. Es blühen sattgelbe Geranien. Dann fährt er in den Stadtteil Besiktas, zum Stadtteilforum.

Drei Fahnen hängen an der Kopfseite des Platzes. Auf einer Fahne steht Carsi, das sind die Ultras von Besiktas Istanbul, eine Fangruppierung des Fußballvereins, die dieses Forum organisiert. Links die türkische Nationalflagge. Pedram Shahyar schweigt. Um ihn herum schabt Plastikgeschirr über Styroporschalen. Das Essen, das hier ausgegeben wird, ist kostenlos. Es gibt Linsensuppe und Reis mit Dönerfleisch.

Langsam füllt sich das Amphitheater. „So kennen wir das schon aus der antiken Demokratie“, flüstert er. Deswegen ist er hier. Es ist dunkel, 27 Grad, ein leichter Wind weht vom Bosporus die Hänge hinauf.

Eine Frau schlägt vor, ob nicht darüber diskutiert werden soll, die Familien einiger Menschen zu besuchen, die bei den Protesten ums Leben kamen. Ein Mann will über die Kommunalwahl 2014 reden. „Wir müssen Istanbul übernehmen“, ruft er.

„Wenn, dann sollten wir auch gleich ganz Mexiko übernehmen!“, ruft ein anderer.

Auf diesem Platz werden die Konflikte der türkischen Gesellschaft von Angesicht zu Angesicht verhandelt. Ein Kurde redet von Kurdistan. Dann meldet sich ein Kemalist zu Wort: Wie kann man von Kurdistan reden, wenn es doch Kurdistan gar nicht gibt? Dann wieder ein Kurde: Er blickt auf die türkische Fahne. Jahrelang, sagt er, habe er diese Fahne verdammt. Inzwischen sei es auch seine Fahne. „Das haben wir gemeinsam erkämpft. Wir alle gemeinsam können dieses Land neu gestalten.“

Ein Kurde, der auf die türkische Fahne schwört, das ist eine halbe Revolution. Ein anrührender Moment.

Es gibt an diesem Abend nur diesen Moment. Keine Strategie.

Es geht um die Zukunft Hunderttausender Menschen, ganz konkret.

Ein paar Dutzend Leute wedeln immer wieder mit ihren Händen, wenn sie Zustimmung signalisieren. Andere zeigen mit ihren Armen ein Kreuz.

Es sind Zeichen der globalisierungskritischen Bewegung, Handzeichen, die um die Welt gegangen sind, als Ausdruck eines politischen Kampfs, eines Befreiungsversuchs, einer globalen Idee.

Ein Abend, eine Szene, wie ein Puzzleteil, das gut in das Bild einer globalen Revolte passt, wenn man nur weit genug davon entfernt steht. Dieses Bild lebt von Gemeinsamkeiten. Große Städte, besetzte Plätze, empörte Menschen. Twitter. Facebook. Es ist immer gefährlich, dieses Bild aus der Distanz zu betrachten, es wirkt dann schnell so romantisch.

Pedram Shahyar betrachtet es aus der Nähe.

Feld, Feld, Örtchen, Feld. Schschschsch. Hanau. Heute Abend erzählt Shahyar in Hessen von der Revolte.

„Taksim auch hier“, steht auf einem Zettel in Hanau

„In Deutschland kannst du normalerweise einschätzen, wie viele Leute zur Demo kommen“, sagt Shahyar. „So viele kommen dann auch.“ Heute Abend, sagt er, kommen wenige.

„Taksim auch hier“, steht auf einem gelben Zettel an dem Haus aus Waschbetonplatten in Hanau. Im Kellergeschoss leuchten Neonröhren, es gibt Tee.

Eine Bundestagsabgeordnete der Linkspartei hat eingeladen. Sie zieht Parallelen zwischen Stuttgart 21 und Istanbul. An beiden Orten ging es unter anderem um Bäume.

Pedram Shahyar erzählt vom Geist des Geziparks, von Leuten, die bei Demonstrationen mit Kochlöffeln auf Töpfe schlagen.

„Das ist ja wie beim Schwabenstreich“, sagt die Linkenpolitikerin.

Sie fragt: „Ist davon etwas in Hanau spürbar? Kommt das hier an?“

Shahyar sagt: „Demokratie ist nicht, vor dem Fernseher zu sitzen, sich eine Meinung zu bilden und alle paar Jahre ein Wahlkreuz zu machen. Demokratie ist, was wir im Gezipark erlebt haben. Demokratie ist Kampf.“

Noch am Abend steigt Shahyar wieder in den Zug. Nachtzug, Pritschenwagen, Viererabteil rechts unten. Er fährt zurück nach Berlin.

Früher hat Shahyar viel vom „Topos des Jetzts“ gelesen, es ging um Kulturkritik, um historische Brüche und Provokationen. Darum, etwas direkt zu tun, die Welt ein Stück zu verändern.

In Istanbul hat er seine Idee neulich wiedergefunden, als Straßengraffiti. Er hat den Schriftzug abfotografiert.

„Time is now“, stand dort an die Wand gesprüht. „Jetzt ist die Zeit.“

Martin Kaul, 31, ist Redakteur für soziale Bewegungen. Er würde auch gern etwas umwerfen