Sexappeal zahlt sich aus

GUTES ZEUGNIS Berlin punktet wirtschaftlich dank seiner starken Bildungslandschaft. Vorteilhaft für junge IT-Firmen ist auch, dass in der Stadt bislang wenig Konzerne sitzen

■ Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) leistet wissenschaftliche Politikberatung für die Bundesregierung. Sie legt regelmäßig Gutachten zu diesen Themen sowie zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands vor. Wesentliche Aufgabe der EFI ist es, die Stärken und Schwächen des deutschen Innovationssystems im internationalen und zeitlichen Vergleich zu analysieren. Das impliziert auch, die Perspektiven des Forschungs- und Innovationsstandorts Deutschland zu bewerten. Auf dieser Basis entwickelt die EFI Vorschläge für die nationale Forschungs- und Innovationspolitik. (lk)

VON LARS KLAASSEN

Ob Berlin so sexy ist, wie seit Jahren immer wieder gesagt wird, wird sich niemals endgültig klären lassen. Aber immerhin hat die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) in ihrem Gutachten 2013 festgestellt, dass die Stadt nicht mehr so arm ist, wie oft behauptet: „Berlin wird in den Medien als die Internethauptstadt Europas gefeiert. Tatsächlich werden in der Stadt seit einigen Jahren verstärkt Internet- und IT-Unternehmen gegründet.“ Und dieser Umstand, so die Experten, sei immerhin auch ihrem Sexappeal zu verdanken: „Der Berliner Gründungsboom ist auf soziale und kulturelle Faktoren zurückzuführen.“

Berlin zeichnet sich laut EFI vor allem durch vergleichsweise günstige Mieten für Wohnungen und gewerbliche Immobilien sowie insgesamt niedrige Lebenshaltungskosten aus. In Kombination mit einem reichhaltigen Kultur- und Freizeitangebot entfalte die Stadt eine hohe Anziehungskraft auf Künstler, Studenten und schließlich auch Gründer von Unternehmen mit hohem Wachstumspotenzial.

Internationales Flair

Als entscheidenden Baustein für die Zugkraft Berlins macht EFI die starke Bildungslandschaft der Stadt aus: „Der Berliner Arbeitsmarkt in der Kombination mit gleich vier großen staatlichen Universitäten und zahlreichen weiteren Hochschulen sorgt dafür, dass gut ausgebildete junge Leute in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen.“ Die internationale Anziehungskraft Berlins schaffe die Möglichkeit, Mitarbeiter aus den unterschiedlichsten Ländern zu engagieren, und mache die Gründung von international operierenden Unternehmen in Berlin einfacher als in anderen Städten.

Der Gründungsboom ist auf soziale und kulturelle Faktoren zurückzuführen

Ausgerechnet das Fehlen einer breiten industriellen Basis sowie die Abwesenheit großer Unternehmen als Arbeitsmarktkonkurrenten beurteilen die Experten als hilfreich für den Boom der Berliner Internet- und IT-Wirtschaft. Denn so müssten Berliner Gründer nicht, wie etwa in München, mit sieben DAX-Unternehmen um die besten Mitarbeiter konkurrieren. „Mittlerweile hat die Gründungswelle in Berlin eine Dynamik erreicht, die sich in gewisser Weise von selbst verstärkt“, so das Fazit des Gutachtens.

In ihrer rund 200 Seiten unfassenden Publikation ist Berlin nur eines von mehreren Schwerpunktthemen. Die EFI fasst in ihrer Publikation zusammen, wo Deutschland im Bereich Forschung und Entwicklung (FuE) steht und wohin die Politik künftig steuern sollte. Die gute Nachricht lautet: Deutschland konnte in den letzten Jahren bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung mit 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts einen deutlichen Anstieg verzeichnen. Das Land habe damit zu den USA aufgeschlossen und seine Position im internationalen Wettbewerb auch bei anderen Indikatoren „erheblich verbessert“.

Doch es gibt auch noch einiges zu tun. Trotz wichtiger Erfolge und international hoher Beachtung, so die Kommission, seien wichtige Problemfelder unbearbeitet geblieben und zentrale Reformvorhaben gescheitert. Dazu gehört beispielsweise die Einführung einer steuerlichen FuE-Förderung. Die EFI fordert unter anderem von der Bundesregierung, sie solle sich auch weiterhin ein ehrgeiziges FuE-Ziel für das Jahr 2020 setzen: 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Forschung und Entwicklung.

Neben einer Reihe aktueller Entwicklungen und Herausforderungen, die im Gutachten benannt werden, widmet sich die Kommission auch mehreren Kernthemen, die eingehender untersucht worden sind. „Ein zentrales Thema ist dabei die Koordination von Klima-, Energie und Innovationspolitik“, betont Helge Dauchert, Leiter der EFI-Geschäftsstelle. Dieser bedeutende Aufgabenbereich müsse besser koordiniert und stärker gebündelt werden, fordern die Experten: „Die Fragmentierung der Zuständigkeiten für die Energieforschung in Deutschland ist bizarr.“ Das Erscheinungsbild und die Kommunikation der zuständigen Bundesministerien seien uneinheitlich, die Abstimmung des Bundes mit den Bundesländern sei unzureichend. Dies führe dazu, dass sich Ziele und Instrumente zum Teil überschneiden und kontraproduktive Wechselwirkungen auslösen. Deshalb solle die Energiewende von einer nationalen Plattform unter der Führung des Kanzleramts koordiniert werden.

■ Dass „weiche“ Standortfaktoren wie Kultur und Alternativszenen im Wettbewerb der Städte um kreative Köpfe zunehmend eine Rolle spielen, ist eine Theorie, die der kanadische Stadtsoziologe Richard Florida bereits vor Jahren formuliert hat. Allerdings steht Floridas Konzept seither auch in der Kritik: Linke Gruppen verwehren sich zum Beispiel gegen eine Vereinnahmung ihrer Aktivitäten durch eine unternehmerische Stadtpolitik, die Kultur nur noch als Ware begreift. Soziale Probleme wie die gezielte Aufwertung städtischer Bodenpreise würden in Floridas Konzept vollständig ausgeblendet. (os)

„Daran, dass die generell positive Bilanz beim Blick auf Forschung und Entwicklung in Deutschland nachhaltig ist“, betont Dauchert, „muss schon heute dringlich gearbeitet werden.“ So wird etwa der Frauenmangel in den Ingenieurberufen zunehmend zu einem „Engpass für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland“, wie das Gutachten anmahnt. Die Experten fordern eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie stärkere Anstrengungen von Unternehmen und Forschungseinrichtungen zur besseren Beteiligung von Frauen in Führungspositionen. Darüber hinaus hält die Expertenkommission letztlich auch die Einführung von Quoten für Spitzenpositionen in Wissenschaft und Unternehmen für angemessen, um eine bessere Gleichstellung zu beschleunigen.

Frauen aktivieren

Wenn es nicht gelinge, mehr qualifizierte Frauen für den Arbeitsmarkt zu aktivieren, werde der Fachkräftemangel im MINT-Bereich (Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften und Technik) „immer mehr zu einem Problem“, heißt es im Gutachten. Bisher unzureichend genutzte Qualifikations- und Innovationspotenziale müssten besser ausgeschöpft werden. Dies betreffe auch Frauen in Führungspositionen in Wissenschaft und Wirtschaft. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels empfiehlt die Kommission, die Zuwanderung von hochqualifizierten Ausländern zu erleichtern. Zudem fordert das Gutachten das ambitionierte Ziel zu verankern, bis 2020 8 Prozent des BIP für Bildung aufzubringen. Denn „zu großer Selbstzufriedenheit“, so die EFI, bestehe trotz aller positiven Meldungen kein Anlass.