Vereinigte Staaten von Europa

EU-Skeptiker können beruhigt sein: Aktuelle Spannungen im Vereinigungsprozess sagen nichts über dessen späteren Erfolg aus. Das zeigt ein Blick auf das historische Vorbild USA

Regieren in den USA ist bis heute ein Balanceakt zwischen lokalen, staatlichen und föderalen Ebenen

Das Unbehagen der Europäer an der EU zeigt sich in Gelddingen. Die Mitgliedsstaaten überbieten sich derzeit in Protektionismus: Spanien blockiert die Übernahme von Endesa durch die deutsche Eon; Frankreich will Suez vor dem italienischen Energiekonzern Enel schützen und Polen stellt sich grenzüberschreitenden Bankenfusionen in den Weg.

Nach Ansicht von EU-Pessimisten sind dies Zeichen für die Grenzen des europäischen Gedankens – Hinweise darauf, dass die EU bestenfalls eine wirtschaftliche Vernunftehe ist. Vielleicht stimmt das aber gar nicht. Ich möchte dies in Frage stellen, indem ich die derzeitige Lage mit den ersten 70 Jahren der US-Geschichte in Beziehung setze – einer Zeit, die von Auseinandersetzungen und Gewalt geprägt war. Allerdings soll diese historische Betrachtung nicht etwa als Vorschlag aufgefasst werden, dass die EU die politische Struktur Amerikas übernehmen sollte, sondern zeigen, dass Spannungen in einem Vereinigungsprozess natürlich sind und späteren Erfolg nicht ausschließen.

Im jungen Amerika fanden die wesentlichsten Schlachten, wie heute in der EU, um Fragen des Verhältnisses zwischen zentraler und einzelstaatlicher Macht statt. Die Union war nach Ansicht der Mehrheit eine Übereinkunft zwischen unabhängigen Staaten, deren Autorität von der Zentralregierung nicht aufgehoben werden konnte. Diese Souveränität der Einzelstaaten sollte man nicht unterschätzen. 70 Jahre lang drohte sie die Union zu spalten, bis es ihr im Bürgerkrieg 1861 am Ende tatsächlich gelang.

Bei vielen dieser Machtkämpfe ging es um Wirtschaftsfragen und das umstrittene Militär, dessen Notwendigkeit viele Amerikaner von vornherein ablehnten. Wirtschaftspolitische Maßnahmen, mit denen die Bildungs- und Finanzeliten begünstigt wurden – denn sie konnten ihr Kapital hin und her bewegen, ebenso wie es die Eliten in Europa heute tun –, fügten kleinen Manufakturen und Bauern Schaden zu. Wirtschaftliche Auseinandersetzungen hatten einen regionalen Zuschnitt: der etablierte Osten gegen den Westen – so, wie es heute in der EU der Fall ist.

Doch immerhin fallen in Europa deswegen keine Schüsse. In den angeblich vereinigten Staaten brachen in den ersten 15 Jahren nach der Revolution drei gewalttätige Rebellionen aus. Kleine Handwerker und Bauern protestierten dagegen, dass ihre Steuergelder nach Washington flossen und dass es keine demokratische Kontrolle über die Steuerverwalter gab. Im Vergleich dazu nimmt sich die Verbitterung der Europäer über die Zahlungen an Brüssel nachgerade milde aus. Der früheste Aufstand, die Shays-Rebellion, führte zum Zusammenbruch der Regierung und zu einer neuen Verfassunggebenden Versammlung; die EU wurde selbst durch das „Nein“ der Franzosen und Niederländer nicht zum Zusammenbruch gebracht.

Vierzig Jahre nach der Unabhängigkeit war noch ebenso wenig eine Lösung in Sicht wie es heute, 40 Jahre nach den Anfängen der EU, in Europa der Fall ist. Die Rezession von 1818 führte zu einer Finanzkrise, die in einen Streit mündete: Wie viel Kontrolle sollte die Nationalbank über die Banken der Einzelstaaten haben? Der Oberste Gerichtshof löste mit seiner Entscheidung zu Gunsten der Nationalbank einen Aufruhr aus, sodass der Präsident des Supreme Court, John Marshall, schon fürchtete, dieser könne sich zu einem Aufstand ausweiten. Dazu kam es zwar nicht, aber die Amerikaner fragten sich weiterhin, weshalb eigentlich Washington immer politische Vorgaben machen durfte, durch welche die Zentralregierung selbst Vorteile gegenüber den Einzelstaaten erhielt oder aber ein Staat besser gestellt wurde als ein anderer. (Den Deutschen, die sich fragen, weshalb Brüssel eine Politik vorgibt, die Lettland Vorteile gegenüber Deutschland verschafft, wird dies bekannt vorkommen.)

Ein Streit ging so weit, dass der US-Justizminister sogar die Befürchtung äußerte, man stünde am Rande eines Bürgerkriegs. Gegenstand des Konflikts war die Frage, wer das Recht zur Lizenzvergabe für Fähren auf dem Hudson River haben sollte. Washington befand, zu Gunsten von New Jersey und Connecticut gegenüber New York, dass dies seine Aufgabe sei. Das war der Stoff, aus dem damals fast Bürgerkriege entstanden.

Die Außenpolitik des jungen Amerika war keinen Deut besser, trug sie doch dazu bei, die Nation mehr zu spalten als zu einigen. Der erste Disput auf internationaler Ebene riss eine so tiefe Kluft, dass Frankreichs Drohung, die USA zu zerstören, hinfällig wurde, weil die Amerikaner dies beinahe selbst erledigt hätten.

Aus Panik vor einem möglichen Krieg mit Frankreich verabschiedete der Kongress 1796 die berüchtigten „Alien and Sedition Acts“, auf Grund derer Nichtbürger und Neueinwanderer deportiert werden konnten und Kritik an der Bundesregierung unterdrückt wurde. Dass die Regierung damit die Regeln der Demokratie verletzt hatte, diese Ansicht vertrat unter anderem Thomas Jefferson, der sich daran machte, das Grundgesetz Amerikas zu überarbeiten. Das wäre dann – selbst ohne formale Neinstimmen – die dritte amerikanische Verfassungskrise gewesen.

Der Konflikt zwischen Zentralgewalt und den US-Bundesstaaten führte schließlich in den Bürgerkrieg

Man einigte sich schließlich auf einen Kompromiss, der die Union jedoch nur so lange zusammenhielt, bis sich ein Problem auftat, das mehr als nur politische Kompromisse, nämlich den Einsatz von Militär erforderte, um ein Auseinanderbrechen zu verhindern. Das Problem war die Sklaverei – ein Thema, das für die amerikanische Union mehr Sprengstoff bot, als es heute selbst die Aufnahme der Türkei für die EU darstellt. Zur Auflösung der Union kam es schließlich im Jahre 1861, in einem Krieg, der den Tod von mehr Amerikanern forderte als irgendein anderer Krieg.

Auch nach dem Ende des Bürgerkriegs, mit dem das föderale System der USA etabliert wurde, bleibt Regieren in Amerika eine Balanceakt zwischen lokalen, staatlichen und föderalen Ebenen. Die meisten Gesetze und Bestimmungen, die das alltägliche Leben regeln – Fragen von Bildung und Strafrecht eingeschlossen –, sind Angelegenheit der Bundesstaaten. Diverse Staaten haben Umweltschutz-Gesetze erlassen, die über die Standards des Kioto-Protokolls hinausgehen, das von der Bundesregierung nicht unterschrieben wurde. Als die Kalifornier die Stammzellenforschung subventionieren wollten, konnte die Bush-Regierung sie nicht daran hindern – so, wie die Bundesregierung New York nicht daran hindern konnte, die Abtreibung zu legalisieren, bevor das Verfassungsgericht dies für verfassungsgemäß erklärte. Sollte das Verfassungsgericht diese Entscheidung revidieren, würden Abtreibungen in den USA nicht illegal – das Thema würde den Bundesstaaten überlassen.

In vielerlei Hinsicht ist die EU schon viel weiter auf dem Weg zu einer echten Konföderation, als es die USA in ihren ersten 70 Jahren waren. Vielleicht hat Europa ja irgendwann genug Vertrauen in seine sanfte Macht, um seine Entwicklung zu einem echten Bund und einem ernst zu nehmenden Global Player zu vollenden. MARCIA PALLEY