Der Draufgänger

1956: geboren in London als Sohn einer indischen Diplomatenfamilie

bis 1976: nach der Rückkehr der Familie nach Indien Schul- und Universitätsausbildung in Kerala, Mumbai und Delhi

ab 1978: Mitarbeiter der UN in New York, Aufstieg zum Untergeneralsekretär, Betreuung von Friedensmissionen auf dem Balkan

ab 1989: Veröffentlichung literarischer Erfolgsromane wie „Great Indian Novel“, „Show Business“ und zahlreicher Essaybände

2006: beinahe erfolgreiche Kandidatur für das Amt des UN-Generalsekretärs unter Duldung Chinas

2009: Einzug ins Parlament in Neu-Delhi nach Wahlsieg in Kerala, Ernennung zum Staatsminister für Auswärtige Angelegenheiten, zahlreiche Auslandsreisen in Begleitung von Premierminister Manhoman Singh

18. April 2010: Rücktritt vom Ministeramt aufgrund von Korruptionsanschuldigungen in Verbindung mit der Gründung einer Kricketmannschaft in Kerala (gb)

AUS DELHI GEORG BLUME

Er war ein Sympathieträger für die Globalisierung und zuletzt der Shooting Star der regierenden Kongresspartei. Er zählt zu den erfolgreichsten indischen Schriftstellern und wäre beinahe UN-Generalsekretär geworden. Doch am späten Sonntagabend musste Shashi Tharoor seinen Rücktritt als Staatsminister für Auswärtige Angelegenheiten in Neu-Delhi einreichen. Der Vizeaußenminister stolperte über seine Liebe zum Kricket und zu einer Frau.

Er selbst sieht sich als Schriftsteller, Peacekeeper, Flüchtlingshelfer und Menschenrechtsaktivist. Der indische Fernsehsender NDTV wählte ihn in diesem März zum „New Age“-Politiker des Jahres. Auf Twitter hat er 700.000 registrierte Leser. Man konnte in ihm die Reinkarnation des indischen Republikgründers Jawaharlal Nehru sehen – ein Mann, der mehr von Indien zu verkörpern schien als jeder andere. Doch jetzt hat er erst einmal ausgedient. Er ist tief gefallen. Er beherrschte das alltäglichste aller politischen Geschäfte in Indien nicht: die Korruption.

Tharoor ist aufgefallen, weil er seiner mutmaßlichen Lebenspartnerin Aktienanteile an einer Profi-Kricket-Mannschaft besorgte, die er selbst gründen half. Er telefonierte und simste dafür mit den Kricketfunktionären. Er hat Spuren hinterlassen. Das war dumm. Indiens Medien waren über ihren Liebling plötzlich hellauf empört. So musste Tharoor am Sonntagabend unter dem Druck von Premierminister Manhoman Singh und der Öffentlichkeit seinen Rücktritt vom Ministeramt einreichen. Er tat es nur widerwillig.

Tharoors Büro in Neu-Delhi liegt im Südblock, dem alten Sekretariatsgebäude des ehemaligen Gouverneurs von Britisch-Indien. Einen Eingang weiter hat der Premierminister sein Büro. Vor Kurzem empfing Tharoor hier den Berichterstatter am Schreibtisch im Winkel eines altenglisch eingerichteten Büroraums. Mit Formalitäten hielt er sich nicht lange auf, als Student arbeitete er selbst nebenbei als Journalist. Im Gespräch berichtet er von seinem ersten großen Interview mit der früheren indischen Premierministerin Indira Gandhi in den 1970er-Jahren. Wie er damals ohne jede Sicherheitskontrollen in ihr Parlamentsbüro spaziert sei. Schon damals war Tharoor der Macht also nahe. Und doch schaffte er es sogar während seiner UN-Karriere, als Autor einen unabhängigen Geist zu bewahren.

Früh verfasste er seine wichtigsten Bücher, die nicht ins Deutsche übersetzt sind, aber in Indien allesamt Bestseller waren. „Great Indian Novel“ aus dem Jahr 1989, eine sich der alten hinduistischen Sagen bedienende Satire auf die indische Nachkriegspolitik, ist bis heute sein größter Auflagenerfolg. Aber auch Tharoors Nehru-Biografie und der Roman „Show Business“ über die Bollywood-Szene in Mumbai finden sich bis heute in jeder besseren indischen Buchhandlung.

Der Minister kämpfte an jenem Tag mit seinem Blackberry. Er telefonierte mit dem Mobiltelefondienst Airtel. Er konnte es nicht fassen: „Es ist so frustrierend. Ganz Delhi kann gerade meine E-Mails lesen“, sagte Tharoor. „In den USA war der Handyservice viel besser.“ Es klang, als wäre der Minister in seiner alten Heimat Indien immer noch nicht ganz angekommen.

Tharoor wurde 1956 als Kind einer keralischen Diplomatenfamilie in London geboren, verbrachte aber seine Schulzeit und die ersten Uni-Jahre in Kerala, Mumbai und Delhi. Doch schon als 20-Jähriger zog er in die USA und behielt dort über 30 Jahre lang seinen Lebensmittelpunkt. Erst vor zwei Jahren zog es ihn zurück in die indische Politik. Inzwischen hatte er sich nicht nur als seriöser Schriftsteller, sondern auch als erfolgreicher UN-Diplomat weltweiten Ruf verschafft. Unter UN-Generalsekretär Kofi Annan leitete er viele Jahre die Peacekeeping-Aktionen der Vereinten Nationen auf dem Balkan. Ganz knapp scheiterte schließlich im Herbst 2006 seine Kandidatur für die Nachfolge Annans. In vier Wahlgängen im Weltsicherheitsrat erhielt Tharoor jeweils zehn Stimmen der fünfzehn Mitglieder des Rates. Am Ende stoppte ihn das Veto der USA, der Südkoreaner Ban Ki Moon erhielt den Zuschlag. Tharoors amerikanische Kritiker werden sich bestätigt sehen: Unerfahrenheit und Draufgängertum hielt man ihm damals vor. Der Vorwurf holte ihn in der Kricketaffäre nun wieder ein.

Tharoors Kricket-Liebe ist bekannt. Sie hat viel mit Heimatverbundenheit zu tun. Er war in New York eben nicht zum Amerikaner und Baseballfan geworden, sondern blieb Indien und dem Kricket verbunden. In seinem Ministerbüro lief während des Interviews lautlos ein Kricketspiel im Fernsehen. Die Engländer hatten das Mannschaftsspiel in der Kolonialzeit nach Indien exportiert. Heute ist es Indiens populärster Sport. Auch über Kricket hat Tharoor ein Buch geschrieben: ein Plädoyer, die im öffentlichen Raum mit Militarismen und Nationalismen aufgeheizten Kricket-Länderspiele zwischen Indien und Pakistan nicht als Ersatzkrieg zu missbrauchen.

„Eine Kricketmannschaft vertritt ein Land, aber symbolisiert es nicht“, schrieb Tharoor mit scharfem Sinn dafür, wie sein Job als Vizeaußenminister und seine Kricketleidenschaft zusammengehen könnten. Dieser Sinn muss ihn in den letzten Wochen verlassen haben. Tharoor witterte seinen großen Kricket-Coup. Als im März zwei neue Mannschaftsplätze in Indiens junger, aber erfolgreicher Profi-Kricket-Liga zu vergeben waren, koordinierte Tharoor einen Zusammenschluss privater Unternehmer, um ein Kricketteam aus seiner Heimat Kerala aufzustellen. Dort hatte er bei den Parlamentswahlen im letzten Jahr den Wahlkreis der Hauptstadt Thiruvananthapuram erobert. Seither musste sich Tharoor für seine politische Basis in Kerala starkmachen.

Doch der geplante Coup mit dem Kricketteam ging gründlich daneben. Zwar gewann die Mannschaft aus Kerala einen Startplatz, doch in allem Übermut hatte Tharoor seiner Freundin Sunanda Kochi, einer erfolgreichen indischen Geschäftsfrau aus Dubai, 5 Prozent der Aktienanteile an der neuen Mannschaft besorgt und obendrein ihren Namen als Teilhaberin des Teams verheimlicht.

„Kricket ist ein Sport, eine Kricketmannschaft vertritt ein Land, aber symbolisiert es nicht“

SHASHI THAROOR

Hat ihn die Doppelbelastung als Minister und Parlamentarier überfordert? Täglich erreichten sein Ministerbüro hundert Anfragen aus seinem Wahlkreis. Zugleich sollte er die Außenpolitik einer Weltmacht lenken. Indiens Verfassung sieht vor, dass Kabinettmitglieder aus den Reihen der Abgeordneten stammen, damit sie den Kontakt zum Volk bewahren. Doch Tharoor sieht darin ein Verhängnis: Statt Gesetzgebung zu betreiben, würden indische Parlamentarier nur um Regierungsämter buhlen. „Wir werden gewählt, um Gesetze zu verabschieden, stattdessen wollen alle nur regieren“, sagte Tharoor im Gespräch mit der taz.

Auch im Amt hat er seine kritische Außenansicht auf Indiens Politik nicht abgelegt. „Indiens politisches System hat sich immer weiter fragmentarisiert. Das Bewusstsein für das, was uns trennt, ist größer denn je: Religion, Region, Kaste, Sprache, Ethnie. Für die eigene politische Identität ist es wichtiger, einer unteren Kaste, einem Stamm oder einer sektiererischen muslimischen Gruppe anzugehören, als Inder zu sein“, schrieb Tharoor in seiner Nehru-Biografie aus dem Jahr 2003. Illusionen machte er sich also nicht.

Die Kritiker in Indien übersahen schnell Tharoors eloquenten Patriotismus. Stattdessen erregten sie sich über eine seiner Twitternotizen, in der er Economy-Flugpassagiere mit Viehherden verglich. Rindvieh ist in Indien heilig. Also musste Tharoor sich öffentlich entschuldigen. Dauernd eckte Tharoor an. Mal kritisierte er online die verschärften Visabestimmungen seines eigenen Ministeriums, mal rief er Saudi-Arabien zum Mittler zwischen Indien und Pakistan aus, obwohl sich die indische Außenpolitik traditionell jede Vermittlung mit Pakistan verbittet. Zunächst schadete er sich damit nicht. Bis zu seiner Kricketaffäre bewahrte er sein Image als Gewinner.

„Es besteht in der indischen Politik eine Nachfrage für Profis wie mich“, erklärte Tharoor seinen bis dahin kometenhaften Aufstieg. Sicher waren es seine diplomatische Karriere und der Beinahe-Erfolg als UN-Generalsekretär in New York, die Tharoor auf Indiens höchste politische Ebene katapultierten. Und doch schien seine Erklärung für den eigenen politischen Erfolg noch zu kurz zu greifen. „Aus Nehrus Büchern spricht ein westlicher Intellekt, der das indische Erbe im Geist der Aufklärung formuliert. Indem Nehru so das Indischsein verwestlichte, sowohl von institutioneller Seite als auch auf philosophischer Ebene, bereitete er Indien auf die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts vor“, schrieb Tharoor im letzten Kapitel seiner Nehru-Biografie. Was auf Nehru zum Teil zutraf, schien erst recht für ihn zu gelten. Das kosmopolitische, intellektuelle Indien, das er bis zum Sonntag im Kabinett repräsentierte, schaut heute immer noch nach Westen. Nicht so sehr aufgrund der ökonomischen Verhältnisse, sondern weil es bislang von globalen Geistern wie Shashi Tharoor, Salman Rushdie, Amitav Ghosh und vielen anderen bestens animiert wurde. Tharoors Sturz aber ist dennoch ein Zeichen der Zeit. In Indiens Parlament sind heute von 545 Abgeordneten 300 Dollarmillionäre. Die Korruption ist überall.