Tor zur Antike

Bislang vor allem Transithafen, will sich Patras, diesjährige Kulturhauptstadt Europas, nun auch als eigenständiges Reiseziel mit italienischer Vergangenheit und schicken Cafés profilieren. Delphi ist dank einer neuer Brücke in Reichweite gerückt

Die Bourgeoisie pflegt ihre Traditionen, zu denen ein starker italienischer Einschlag gehört

VON STEFAN SCHOMANN

Kleine Früchte haben Patras groß gemacht – Rosinen. Entlang der Nordküste des Peloponnes wurde schon in der Antike Weinbau betrieben, bis hinüber nach Korinth, von wo die Korinthen ihren Namen haben. Ende des 19. Jahrhunderts avancierten die getrockneten Weinbeeren zum Exportschlager, eroberten Europas Backstuben als unentbehrliche Zutat für Panettone, Gugelhupf und Christmas Pudding. Zugleich etablierte der Hafen von Patras sich als Griechenlands Tor zum Westen. Handel und Wandel erblühten, ein wohlhabendes Bürgertum entstand.

Abgesehen von den Überresten der Antike, stammen fast alle historischen Bauten aus dieser Zeit: klassizistische Herrenhäuser in Türkis, Zitronengelb, Rosé und Apricot. Die Straßen bilden ein regelmäßiges Gitter, führen hier den Hang hinauf und dort ans Meer hinunter. Ein bequemes Raster für die Stippvisite in einer Stadt, die zur allgemeinen Überraschung als europäische Kulturhauptstadt 2006 firmiert.

Denn bislang hatte Patras mit Kultur nicht allzu viel im Sinn. Die ganze Stadt funktionierte als ein verlängertes Terminal. An den Kais legen fortwährend riesige Fähren aus Bari, Ancona und Venedig an. Anderthalb Millionen Reisende rauschen jährlich hier durch – aber nur wenige machen Station. Mit seiner Kulturoffensive will Patras dies nun ändern. Will sich als eine Stadt mit Lebensart und Fortüne darstellen, als Tor zur Antike wie zur griechischen Gegenwart. Kultur wird als ein Instrument der Stadtentwicklung benutzt, als ein Hebel, um die Provinzmetropole in ein besseres Licht zu rücken, sie für ihre Bewohner wie für ihre Besucher begehrenswerter zu machen.

„Patras einst und jetzt“ lautet der Titel eines Bildbands, der im Foyer des Hotel Byzantino ausliegt. Schon flüchtiges Blättern führt zu einem klaren Ergebnis – 20:1 für das Einst. Schuld daran sind die allgegenwärtigen Betonklötze aus den 60er- und 70er-Jahren, wie man sie auch aus Athen kennt. Eine dümmliche Moderne gab damals auch anderswo den Ton an, in Griechenland kam noch das Signum der Diktatur hinzu. Für die achtstöckigen Kästen wurden ganze Straßenzüge abgerissen. Zugleich wurde Patras dem Autoverkehr geopfert und das Umland entsprechend zersiedelt.

Doch die Rückbesinnung ist im Gange. Schicke Cafés und Boutiquen kolonisieren die Altstadt, aus maroden Textil- und Papierfabriken werden moderne Ausstellungshallen, aus heruntergekommenen Bürgerhäusern elegante Stadthotels wie zum Beispiel das Byzantino, wo alte Mauern und modernes mediterranes Design eine gelungene Verbindung eingegangen sind.

Noch immer gibt es in Patras eine breite Bourgeoisie, die einen konservativen Lebensstil pflegt. Sie schielt kaum nach Athen, sondern pflegt ihre eigenen Traditionen. Zu denen ein starker italienischer Einschlag gehört. Es gibt etliche katholische Kirchen, zahlreiche italienische Lehnwörter und Familiennamen, einen ähnlichen Modegeschmack und die gleiche Vorliebe für Gesten und Berührungen. Im Apollo-Theater, dem die Mailänder Scala als Vorbild diente, stehen wie selbstverständlich Verdi und Puccini auf dem Spielplan. Um dem Titel Kulturhauptstadt Europas alle Ehre zu machen, spielt das Orchester in diesem Jahr im Dauereinsatz.

Auch der berühmte Karneval von Patras gehört zum transadriatischen Kulturgut. Die Stadt selbst stand zwar nur kurz unter der Herrschaft Venedigs, die vorgelagerten Ionischen Inseln aber viele Jahrhunderte lang. Daneben gibt es Bezüge zu den Kulten der Antike. In einer Werkhalle am Stadtrand, einem Hangar des Humors, hecken ein Dutzend Künstler das ganze Jahr über die Figuren für die nächste Saison aus. Unter Leitung von Petros Vrionis dengeln, schweißen, kleben und pinseln sie begeistert vor sich hin, ewig mit Styroporkrümeln bepudert und mit Farbe verschmiert. Entwerfen kolossale Statuen von Zyklopen und Satyrn, Harlekinen und Magiern, Volkshelden und Fabelwesen.

„Wir können keine Kunstdiplome vorweisen und kein Universitätsstudium“, meint Vrionis. „Aber dafür ein Herz, eine Seele und fast 200 Jahre Erfahrung im Karneval.“ Nimmt man die antiken Mysterienspiele hinzu, überspannt ihre Kompetenz gar drei Jahrtausende. Vrionis spricht über die Ekstasen der Bakchen, als hätte er letzte Woche daran teilgenommen, und zitiert so beiläufig Aristophanes, als handle es sich um einen befreundeten Kollegen.

Auch für das Programm der Kulturhauptstadt bildete der Karneval einen ersten Höhepunkt. Ab Mai folgen zahlreiche Konzerte, Theatergastspiele und Ausstellungen. Auf große Namen hat man weitgehend verzichtet, setzt mehr auf Breiten- denn auf Hochkultur. 1.200 Freiwillige bedeuten für die Stadt ungleich mehr als ein flüchtiger Abend mit einem Star. Zugleich laufen umfangreiche Sanierungsarbeiten in der Altstadt.

Dass es am Meer liegt, scheint Patras kaum mehr zu wissen. Abgesehen von dem kleinen Park am Leuchtturm hat es keinerlei Uferpromenade. Doch es gibt große Pläne: Der Fährhafen soll verlegt und die Küste der Stadt wieder zurückgegeben werden. Mitsamt dem herrlichen Blick über die blaugrüne Meerenge, einen mediterranen Fjord, zu beiden Seiten eingefasst von 2.000 Meter hohen, bis in den April von Schnee bedeckten Bergen.

Diese Gebirge wiesen Odysseus den Heimweg nach Ithaka, hier fing Herakles den Erymanthischen Eber, hier sprudelte die Quelle der Demeter und flossen die Wasser des Styx. Olympia liegt nur etwa hundert Kilometer entfernt, Korinth, Epidauros und Mykene lassen sich bestens auf dem Weg nach Athen besuchen, und seit vor zwei Jahren die imposante Brücke über den Golf eröffnet wurde, ist auch Delphi in Reichweite gerückt. Das Nordufer wird gemeinhin als „Festland“ tituliert, während der Peloponnes sich de facto als Insel betrachtet, als ein Floß, das vor Attika nur vertäut liegt. Die Brücke macht Patras zum idealen Stützpunkt für all jene, die sich die Rosinen unter den antiken Stätten herauspicken wollen.