Das Fremde als Motor

Anklopfen am Baucontainer: Für ihr Buch „Berlin – the Urban Photo Project“ reiste Esther Levine immer wieder nach Berlin, um in unscheinbaren Momenten ein Höchstmaß an Ehrlichkeit zu suchen

Die Anwesenden in der prächtigen Dachetage des C/O Berlin fühlten sich angesprochen. Keine Frage, Esther Levine hatte auch sie gemeint. Kurz vor der Biennale-Eröffnung, war die 36-jährige Fotografin und Deutschamerikanerin gekommen, um ihr schmuckes Buch „Berlin – the Urban Photo Project“ vorzustellen. Fein, dachten sich wohl viele, unsere Kreativstadt, ein weiteres Mal in Szene gesetzt. Und dann sagt Levine am Ende eines Gesprächs mit den Kuratoren Ellen Blumenstein und Harm Lux, die deutsche Hauptstadt sei für sie gar keine Kulturmetropole von Welt. Der Elan der Neunziger? Längst verflogen!

Levine saß vor der Dachterrasse, hinter der die Stadtsilhouette glitzerte. Berlin lag ihr zu Füßen. Doch wer zuvor in ihrem kleinformatigen Bildband mit seinen 238 Fotos geblättert hatte, wusste längst: Das ist nicht der Blick der Esther Levine. Sie fängt unten an.

„Deshalb behaupte ich doch nicht, Berlin sei trist“, sagt Levine. „Das ist eben meine Sicht, nur eines von vielen Gefühlen der Stadt.“ Nun ist es nicht so, dass Levine ein abschreckendes Berlin zeigt. Trotz der grauen Häuserfassaden, der verschmierten Treppenhäuser oder Toiletten, des alltäglichen Abfalls oder den vom anstrengenden Stadtleben gezeichneten Figuren und überhaupt den Details, die sie mal in Schwarz-Weiß, mal in snapshothafter Farbhast festgehalten hat.

Levine zeigt einfach jenen Teil der Stadt, den man als Berliner gar nicht mehr sieht – weil man ihn umso mehr kennt. Vielleicht musste eine wie sie kommen, eine überzeugte New-Yorkerin, um mit unschuldiger Neugier zu zeigen, warum man Berlin auch lieben kann. Für das Unscheinbare, das Echte. Immer wieder von außen kommend, hat sie während ihrer Aufenthalte zwischen 1999 und 2004 Intimes entdeckt und Außenseiter gesucht.

Vor sechs Jahren klopfte sie an die Baucontainer nahe dem Potsdamer Platz, in denen portugiesische Bauarbeiter wohnten. Sie wurde hineingelassen. „Die Kamera war mein Schutz, aber auch meine Rechtfertigung“, sagt Levine. Alle Bilder haben sich einfach nur ergeben, betont sie freundlich bestimmt, und so zierlich, wie sie da sitzt, ist es verständlich, dass Leute ihre Präsenz trotz Kamera kaum als störend empfinden.

Ihr Vorgehen hat sie am renommierten International Center of Photography (ICP) gelernt: Eine Stadt erschließt sich erst durch ihre Einwohner. Also traf sie am Rande von Kreuzberg weitere Menschen in Behilfsbehausungen, stand ganz überrascht auf einer improvisierten Pferdekoppel und begleitete später über Wochen hinweg eine Gruppe Jugendlicher. Manchmal hing sie stundenlang mit ihnen rum, um dann einen ganz unscheinbaren Moment mit einem Höchstmaß an Ehrlichkeit festzuhalten. „Ich glaube“, sagt Levine, „viele waren froh, dass sich jemand für sie interessiert.“ Rund 15.000 Fotos hatte Levine schließlich beisammen. „Ich lief jeden Morgen von vorne los.“

So ähnlich hatte es auch 1993 angefangen, als sie gerade aus Trier nach New York gekommen war. Innenarchitektur wollte sie studieren – wäre da nicht diese Kamera gewesen. Levine erkundete damit die neue Umgebung. Drei Jahre danach und einige Fotokurse später bewarb sie sich spontan am ICP. Dort bekam sie die Hatz und den Reiz unterschiedlichster Aufträge nahe gebracht.

„Ich fotografiere in New York ganz anders als in Berlin“, sagt Levine und beteuert dann noch, dass es in Magazinen ohnehin nicht mehr genügend Platz gäbe, damit sie journalistisch arbeiten könne. Wobei, für Max hat sie in Berlin eine Strecke machen dürfen – da war sie unter anderem eine Nacht mit Ariane Sommer unterwegs. Der Kontrast zwischen ihrem eigenen Buch „Berlin“ und diesen Nightlife-Szenarien könnte nicht größer sein. Und doch ist es eine Bildreportage, die Levine auch hier zusammengefügt hat. Aus der Situation gegriffen, unmittelbar, einzelne Geschichten und für sich stehende Eindrücke.

Levine wird weitere Städte sezieren, wird versuchen, die immensen Kosten durch Ausrüster-Unterstützungen halbwegs zu kompensieren. In Warschau war sie, auch im chinesischen Guangzuhou, wo sie wie erschlagen war von der Fremdheit, die ja doch Motor ihrer Arbeit ist. „Ich will kein Schema haben. Es muss immer authentisch sein.“ So authentisch ist Levines Werk geraten, dass man selbst den Fernsehturm auf dem Cover verzeiht. Er sieht dort anders aus, als an jenem Abend von der Mitte-Loft aus gesehen. PATRICK BAUER

Esther Levine, „Berlin“. EditionJ. J. Heckenhauer, Berlin 2006,218 Seiten, 24 €