Mit Leib und Seele

Merckle sagt, das Seehaus sei sein „Auftrag von Gott“. Hier will er seinen Glauben zeigen und preisenRegelbrecher werden nicht gesteinigt. Aber umstellt, angeklagt und in der Hierarchie zurückgestuft

AUS LEONBERG GESINE KULCKE

Stühle rutschen über den Holzboden. Die Deckenlampen mit den Milchglasschirmen verteilen Licht über den langen Esstisch im alten Seehaus. Helga Ziegner, 37, predigt, während draußen der Lastverkehr über die Landstraße donnert und gegenüber im Gasthaus Glemseck ein paar Wanderer rasten, die das Krummbachtal zwischen Stuttgart und Leonberg ausgespuckt hat.

„Es gibt Dinge im Leben, die gut sind, aber auch schwierig“, sagt sie gerade. „Fällt da jemandem etwas ein?“

Siegfried hebt den Kopf. „Das Seehaus“, sagt er. Dann sinkt der 19-Jährige wieder in sich zusammen wie ein Hefeteig, in den sich eine Gabel bohrt.

„Genau“, sagt Helga Ziegner, „es ist vielleicht gut, dass du hier bist. Aber es ist schwierig, dass du immer machen musst, was wir Mitarbeiter sagen.“

Sie weiß, wovon sie redet, weiß, wie anstrengend es für die Jugendlichen hier im Seehaus ist, sich stets beherrschen zu müssen. Dann erzählt sie ihnen von ihrem Urlaub: Da habe jemand ihr Auto aufgebrochen. Sie hätte dem Dieb am liebsten ihre Gitarre über den Kopf geschlagen, aber zum Glück habe das Wort Jesu sie daran gehindert. Helga Ziegner greift nach der Bibel, die vor ihr auf dem Tisch liegt, und liest: „Ich aber sage euch, liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen. So erweist ihr euch als Kinder eures Vaters im Himmel.“

Helga Ziegner arbeitet im Büro des Geschäftsführers. Der heißt Tobias Merckle und hat vor drei Jahren das Seehaus gekauft und den Verein Prisma gegründet, „um jugendliche Straftäter ganzheitlich zu fördern, ihnen Chancen zu eröffnen und mit ihnen neue Lebenskonzepte zu erarbeiten.“ Tobias Merckle wirkt jünger als 35 in seinen Jeans und dem schwarzem Polohemd. Oben links auf dem Hemd steht ganz bescheiden der Name seines Hauptsponsors. Merckle spitzt den Mund, zieht ein Grübchen in sein frisch rasiertes Gesicht: Er weiß, dass nicht nur sein ungewöhnliches Projekt für jugendliche Straftäter neugierig macht, sondern auch er selbst. Sein Urgroßvater Adolf Merckle hat das Pharmaunternehmen Ratiopharm gegründet. Heute produziert der Konzern unter der Leitung von Tobias Merckles Brüdern jedes Jahr sechs Milliarden Tabletten, hundert Millionen Zäpfchen und Ampullen, er setzt 1 Milliarde Euro um.

Tobias Merckle spricht nicht gerne darüber. Auch früher war das schon so, sagt Beate Newiger, die mit ihm in Lüneburg Sozialpädagogik studiert und in einer WG gewohnt hat: „Es war ihm unangenehm, als wir herausfanden, wer seine Familie ist. Er wollte sich von ihr lösen.“ Der Vater hatte erwartet, dass Tobias wie seine Brüder BWL oder Jura studiert. Er konnte nicht verstehen, was sein Sohn mit Sozialpädagogik vorhatte. „Inzwischen hat er aber begriffen, dass ich nicht ziellos bin, sondern etwas ganz Bestimmtes erreichen will“, sagt Merckle. Das, was er erreichen will, passe ins Bild, auch ins Familienbild.

Seine Mutter habe sich immer schon in der Kirche sozial engagiert. Zwar ging es früher am Mittagstisch hauptsächlich um die Firma. Aber die ganze Familie teile den Grundsatz, den Ruth Merckle einmal der Zeitschrift Voice diktierte: „Reichtum ist eine Leihgabe Gottes, mit der man Sinnvolles anfangen muss.“

Die Firma sei genauso sinnvoll und sozial wie das, was er tue, sagt Tobias Merckle. Sie sichere Arbeitsplätze. „Trotzdem wollte ich einen eigenen und anderen Weg gehen.“ Schon während des Studiums arbeitete er in einem Hamburger Gefängnis, für die Heilsarmee St. Pauli, die Jugendanstalt Hameln, später in Krelingen in einer Einrichtung für Drogenabhängige, dem „Geistlichen Rüstzentrum“.

Mit seiner Mitbewohnerin Beate Newiger flog er 1995 drei Monate in die USA. Sie reisten nach Concordeville an eine Glen Mills School. Das private Strafinternat sah aus wie ein Elitecollege: Junge Männer begrüßten sie höflich auf einem Campus mit Sportplätzen, Schulgebäuden, Bibliotheken und einer Cafeteria. Weit und breit kein Panzerglas, keine Mauer, kein Stacheldraht. Stattdessen: klare, autoritäre Strukturen, die totale Reglementierung des Alltags. Die erste Glen Mills School wurde vor 180 Jahren in Pennsylvania gegründet. Fast siebzig Prozent ihrer Absolventen werden nicht mehr straffällig, nachdem sie das strikte Sozialtraining der Schule durchlaufen haben. Tobias Merckle war beeindruckt. Er fasste einen Entschluss: Das Modell, das aus Gangstern brave Bürger macht, wollte er nach Deutschland holen. Mit Leib und Seele.

Heute wohnt Merckle Tür an Tür mit den Jugendlichen. Das Seehaus ist sein Zuhause. Er joggt mit den Insassen durch den Wald, er betet, isst, arbeitet mit ihnen. Vor einiger Zeit hat er jeden einzelnen persönlich in der JVA Adelsheim ausgesucht, der größten Jugendvollzugsanstalt in Baden-Württemberg. Aktuell haben zehn seine Kriterien erfüllt: Die Insassen dürfen nicht älter als 17 sein, und sie müssen mindestens zu einem Jahr Haft verurteilt sein, damit der christliche Seehaus-Wertekanon seine Wirkung in ihnen entfalten kann. Schwerverbrecher, Drogenabhängige und Sexualstraftäter sind nicht willkommen. Für die ganz Harten hat auch Merckle kein Rezept. Wenn er in Adelsheim von seinem Verein Prisma und vom Seehaus erzählt, davon, dass jeder ein eigenes, unverschlossenes Zimmer hat, dass es weder Überwachungskameras noch Schranken gibt, wollen die meisten Verurteilten sofort mitkommen, ihre Zellen mit dem Etagenbett an der Wand und dem Fernseher in der Mitte eintauschen gegen das gelobte Haus. Sobald Tobias Merckle aber den Tagesablauf im Seehaus schildert, machen die ersten einen Rückzieher. „Wir haben von morgens 5.45 bis abends 22 Uhr ein straffes Programm“, stellt er gleich klar.

Siegfried hat das nicht abgeschreckt. Er kam vor zwei Jahren, mit 17, als es mit dem Projekt in Leonberg gerade losging. Er hatte in Adelsheim gesessen, Autodiebstahl und Raubüberfall. Tobias Merckle holte ihn raus, mit dem Auto fuhren sie zum Krummbachtal. Als Siegfried das Seehaus sah, den denkmalgeschützten Gutshof mit den Stallungen, konnte er es kaum glauben. Sogar sein Zimmer war, wie versprochen, unverschlossen. Doch schon bald bekam er die unsichtbaren Grenzen zu spüren: Ständig war ihm ein Betreuer auf den Fersen, er durfte nicht mit den anderen reden, er war Mädchen für alles, er putzte die Klos, er schrubbte die Küche, er entsorgte den Müll und machte die Betten. Rauchen, telefonieren, Besuch empfangen – verboten. Tagsüber schleppte Siegfried Steine und rührte Zement an. Sie fingen damals mit dem Neubau an, gleich neben dem Seehaus.

Merckle sagt, das Seehaus sei sein „Auftrag von Gott“. Er wolle hier niemanden missionieren, auch Muslime seien willkommen. Aber seinen Glauben will er zeigen und preisen. So habe er es immer gehalten. Auch in Blaubeuren, wo er aufwuchs und aktiv in der Kirchengemeinde war. Seine christlichen Motorradfreunde von damals nennen sich noch heute „Bikers under God’s Command“. Den Namen haben sie sich auf ihre schweren Lederjacken genäht, die Kraft des Glaubens soll immer gegenwärtig sein. „Viele trauen sich nicht, sich zu bekennen und über ihre christlichen Werte zu sprechen. Ich denke, dass ist eine Schwäche in unserer Gesellschaft.“

Tobias Merckles Bekenntniseifer gefiel Siegfried anfangs gar nicht, er verabscheute die täglichen Bibelstunden. „Wir waren alle voll dagegen, auch Sven und Daniel.“ Wie man an Gott glauben könne, wollte einfach nicht in Siegfrieds Kopf. Das ist inzwischen anders, Siegfrieds persönlichem Erweckungserlebnis sei Dank: „Keiner hat damit gerechnet, dass wir neben dem Seehaus weitere Wohnungen würden bauen dürfen. Aber wir haben dafür gebetet, und – zack! – war die Baugenehmigung da.“

Siegfried hat den fünften, den höchsten Rang im Seehaus erreicht. Er ist Vorbild für Neulinge, Freiheiten hat er sich mühsam erarbeitet: Sein Vater darf ihn jedes zweite Wochenende besuchen, mit ihm darf er ins nahe Leonberg fahren – zum Christlichen Verein Junger Männer und in den Gottesdienst. Manchmal sogar ins Kino. Missbraucht er aber seine Freiheiten, marschieren die Bewohner auf, komplett: alle Betreuer, alle Jugendlichen. Regelbrecher werden nicht gesteinigt. Aber umstellt, angeklagt und zurückgestuft.

So hat es Daniel erlebt. „Weil er keine Kritik vertragen kann“, erklärt Tobias Merckle. „Er hat vergessen, den Mülleimer zu leeren, und wollte den Punktabzug dafür nicht akzeptieren.“ Es gibt eine klare Hierarchie, sagt Merckle, „aber eine positive“. Negative, subkulturelle Werte, die die Jugendlichen von der Straße und aus dem Knast mitbringen, werden durch christliche Werte ersetzt – der Glen-Mills-Trick à la Merckle.

Die elf Christen, die mit Merckle hier arbeiten, bewerten jeden Handgriff, den die Jugendlichen machen, jeden Satz, den sie sprechen. Pünktlich, sauber, gehorsam, fleißig und sportlich – so sollen sie sein. Den ganzen Tag. In der Küche wachen die Sozialpädagogen, beim Gewichtestemmen die Sportlehrer, die Praktikantin kontrolliert die Zimmer und der Schreinermeister das Arbeitstempo beim Dachlattenschleppen. Was gut und böse ist, bestimmt die Hausordnung. Wer sich anpasst, wird nach einer Woche mit zwei Euro fünfzig belohnt. Der Monatsbeste bekommt fünf.

Ob das Konzept Sinn macht und aufgeht, könne man erst nach Jahren wissen, sagt der Leiter der JVA Adelsheim, Dr. Joachim Walter. „Dann haben wir erste Daten über Rückfallquoten.“ Intensiver und persönlicher als in der JVA sei die Betreuung der Jugendlichen auf jeden Fall. Und das sei sicher gut. Walter lehnt allerdings Merckles „Standleitung zur ewigen Wahrheit“ und die Glen-Mills-Elemente ab: „Ein militärischer Maskenball von morgens bis abends macht sicher einen guten Soldaten. Aber wer braucht schon lauter Ranger?“

Tobias Merckle winkt ab: So strikt hierarchisch gehe es im Seehaus gar nicht zu. Die Mitarbeiter wohnten schließlich mit den Jugendlichen zusammen, wie in einer Familie. Diese Familie aber lässt keine Alternativen und Widersprüche zu: um Strafen zu vermeiden, müssen die Jugendlichen gehorchen – einem Regelwerk, das nur im Seehaus existiert. Später, wenn sie wieder auf freiem Fuß sind, werden sie täglich mit anderen Ideen und Meinungen konfrontiert sein. Sie werden dann entscheiden müssen, wie sie sich verhalten. Eine Freiheit, auf die sie nicht vorbereitet sein werden.