Brot und Spiele im dritten Jahrtausend

BREAKDANCE UND ABSCHIEBEGEFAHR Ihr Aufenthaltsstatus ist unsicher, ihr Wille, in Berlin zu bleiben, riesig. Den Frust tanzen sie sich vom Leib. Eine Begegnung mit den Protagonisten des Dokumentarfilms „Neukölln Unlimited“

Im HipHop-Tanzstil Krumping stellen die Tänzer Polizeigewalt nach

VON JAN KEDVES

Wenn diese drei Geschwister ein Klischee erfüllen, dann dieses: Kinder, die traumatische Erfahrungen durchmachen, werden schneller erwachsen. Bei Lial, Hassan und Maradona Akkouch merkt man es an der gesteigerten Selbst- und Fremdreflexivität, mit der sie über ihr Leben und ihre Ausweisung im Jahr 2004 sprechen, zum Beispiel letzte Woche im Neuköllner Café Rix, wo sie ihren Film „Neukölln Unlimited“ promoten. „Wir sind Berliner!“, erklärt Lial, 19 Jahre alt, gleich zu Beginn des Gesprächs, als wolle sie der Frage, ob sie und ihre Brüder sich als Deutsche oder als Libanesen fühlen, von vornherein aus dem Weg gehen. Auch ansonsten klingt bei den dreien bisweilen ein genervter Unterton an, der nicht recht zu ihrem lockeren Dreistreifenstil passen will.

Der Zynismus der Behörde

Lial, Hassan und Maradona Akkouch sind es leid, in Rechtfertigungszwang zu geraten und sich in einen Topf werfen zu lassen – mit den Nichtintegrationswilligen, mit den Kriminellen, mit den Asozialen, die zehn Kinder auf die Welt bringen, in dem Irrglauben, das Kindergeld mache sie reich. All diese Menschen gibt es in Neukölln, wo die Akkouchs aufgewachsen sind. Das heißt aber nicht, dass sie zu ihnen gehören. Sechs Wochen nach ihrer Ausweisung in den Libanon war die Familie zurück in Berlin. Von all dem erzählt die Dokumentation „Neukölln Unlimited“, die bei der Berlinale in der Sektion Generation 14plus den Gläsernen Bären für den besten Feature-Film bekam und diese Woche in den Kinos anläuft.

In dem Film sieht man Hassan, der wie Lial 19 Jahre alt ist, mit seiner Schwester auf einer Odyssee zwischen Migrationsberatungsstelle, Härtefallkommission und Ausländeramt. In Letzterem steht auf einem Schild: „Wir sind Ihnen bei der Rückkehr in Ihr Heimatland behilflich“. Und deutscher Verwaltungszynismus zieht sich durch den ganzen Film: Der amtierende Innensenator Berlins, Ehrhart Körting, erklärt Hassan bei einem Ortstermin in einem Jugendzentrum, nach welchen Kriterien entschieden wird, wer bleiben darf und wer gehen muss: „Ist es im öffentlichen Interesse des Landes Berlin oder der Bundesrepublik Deutschland, den Menschen hierzubehalten?“ Mit „öffentlichem Interesse“, das sagt Körting nicht, kann nur gemeint sein: Was hat der Mensch zu bieten – Geld, wertvolles Know-how oder vielleicht entertainerisches Talent?

Mit dem fertigen Film sind Hassan, Lial und Maradona sehr zufrieden. „Neukölln Unlimited“ ist nicht nur ein Migrationsdrama, in dem die Willkür der deutschen Abschiebepraxis deutlich wird, es ist auch ein Breakdance-Film. Ursprünglich sollte er „Life Is a Battle“ – „Das Leben ist ein Kampf“ – heißen. Das hätte rabiat geklungen und wohl vor allem die Berliner Breakdance-Community angesprochen, in der Hassan als deutscher Breakdance-Meister und der 15-jährige Maradona als Vizemeister Stars sind.

Dass der Film stattdessen den leicht megalomanischen Titel „Neukölln Unlimited“ trägt, zeigt, dass die Regisseure Agostino Imondi und Dietmar Ratsch Ernst machen wollten mit dem Versprechen, das sie Hassan zu Beginn der Dreharbeiten gaben: dass es ein großer Film werden würde, nicht nur „eine kleine Reportage oder so“, wie Hassan sagt. Reportagen gab es schon viele über ihn, vor allem ein im Mai 2006 in der taz veröffentlichtes Porträt zog deutschlandweit Berichte nach sich.

Geändert hat das an seiner Situation und der seiner Familie kaum etwas: Zwar haben er und Lial inzwischen einen Aufenthaltsstatus, der so lange gilt, wie sie ihre Ausbildung im Eventbereich macht und er genug Geld verdient, doch die Mutter und die jüngeren Geschwister, Maradona eingeschlossen, befinden sich nach wie vor in „Kettenduldung“ – so heißt das in schönem Amtsdeutsch, wenn statt einer Aufenthaltserlaubnis immer wieder nur befristete Duldungen ausgesprochen werden und Migranten auf diese Weise jahrelang in einem quälenden Zustand zwischen Zuversicht und der Angst, es könnte morgen doch vorbei sein, leben müssen.

Weil der Film letztlich den Versuch darstellt, das „öffentliche Interesse“, von dem Innensenator Körting spricht, herzustellen, passt es auch, dass „Neukölln Unlimited“ zeigt, wie Maradona versucht, es als Breakdancer ins Finale der RTL-Show „Das Supertalent“ zu schaffen. Dieter Bohlen will ihn nicht. Willkommen in der perfiden Leistungslogik der Erlebnisdemokratie: Mach deine Makel mit Unterhaltungswert wett, tanz dich in die Herzen, vertrau nicht allein auf Verständnis oder Menschenrechte. Brot und Spiele für das dritte Jahrtausend.

All das mag klingen, als tanzten die Akkouchs nur aus Kalkül. Das Gegenteil ist der Fall. „Wenn man tanzt, ist man in seiner eigenen Welt“, erklärt Maradona, und auch wenn dies wie eine etwas zu oft bemühte Phrase wirkt: Seine Mutter leidet seit der Ausweisung 2004 unter epileptischen Anfällen, eines der jüngeren Akkouch-Geschwister hat ADS. Da scheint es ratsam, Psychostress nicht in sich hineinzufressen. „Mir gibt das Tanzen Kraft und Sicherheit“, bestätigt Lial. „Wenn ich in einen Raum gehe, in dem ich trainieren kann, und nur die Musik um mich habe, dann bin ich in einer Welt, die mir keiner nehmen kann.“

Auf Madonnas Spuren

Im Film ist die junge Frau bei einer Theaterprobe zu sehen, in der sie eine aus dem Krumping bekannte Figur übt. Krumping, jener HipHop-Tanzstil, der nach den Polizeimisshandlungen an Rodney King in South Central Los Angeles entwickelt wurde, stellt Gewalt – auch institutionelle wie etwa das Verprügeln mit Polizeiknüppeln – in drastischen Figuren nach. Hassan ist unterdessen in einer anderen Szene mit seiner Breakdance-Gruppe, den FanatiX, zu sehen, wie sie bei einer Show ein paar Vogueing-Figuren vorführen. Dass breitbeinig auftretende B-Boys aus Neukölln jenen einst von Madonna popularisierten schwulen New Yorker Laufstegtanz aufgreifen, erscheint zunächst befremdlich. Doch was heißt das schon, „fremd“? „Wir haben das Vogueing auf internationalen Breakdance-Veranstaltungen gesehen und wollten es zum Entertainment auch in unsere Choreografie einbauen“, erklärt Hassan. „Nicht nur weil es gut aussieht, sondern weil wir den Mädchen im Publikum so auch zeigen wollen, dass wir das, was sie können, schon lange können.“

Das klingt nach rundum vollzogener Gleichberechtigung. Und tatsächlich wirken die Akkouch-Geschwister auch sonst recht entspannt, was Geschlechterrollen angeht. Zwar spricht Lial im Vergleich zu ihren Brüdern etwas leiser und bedachter, und Hassan fällt ihr hin und wieder ins Wort, doch genau so passiert das manchmal in bildungsbürgerlichen Familien. Uneins sind sich Lial, Hassan und Maradona nur in der Frage, ob „Neukölln Unlimited“ mit ihnen als Paradebeispielen für gelungene Integration auch gedreht worden wäre, wenn Lial ein Kopftuch tragen würde: „Auf jeden Fall, wahrscheinlich hätten die Regisseure das sogar noch besser gefunden“, meint Hassan. „So hätte man nämlich noch deutlicher erkannt, dass wir uns modern in der deutschen Gesellschaft bewegen, dabei aber trotzdem unsere Tradition bewahren.“ Maradona widerspricht: „Nein, der Film wäre nicht gedreht worden, weil Lial dann überhaupt nicht tanzen würde.“ Lial nickt. Auch sie sieht einen Widerspruch darin, sich auf der Bühne zu präsentieren und dabei die Haare zu verstecken. Doch dann sagt sie: „Muslimische Mädchen, die kein Kopftuch tragen, leben häufig religiöser und traditioneller als die Mädchen, die zum Kopftuchtragen gezwungen werden und sich heimlich dann doch enge Klamotten anziehen.“

Was man sieht, ist eben nicht immer das, was man zu erkennen glaubt: eine der Lektionen in Differenzierung, wie man sie dieser Tage am besten in Neukölln lernt.

■ „Neukölln Unlimited“. Regie: Agostino Imondi, Dietmar Ratsch. Mit Lial Akkouch, Hassan Akkouch, Maradona Akkouch u. a. Deutschland 2010, 96 Min.