Wo die Abrissbirne kreist

STADTUMBAU Die Häuser am Goldenen Horn gehören zum Unesco-Weltkulturerbe. Dennoch sollen sie weg. Dabei wurden viele erst vor Kurzem restauriert – auch mithilfe der EU

Bauboom: Nachdem in Istanbul lange in Bauten im Norden der Stadt investiert worden war und am Stadtrand Viertel für Wohlhabende entstanden sind, richtet sich der Blick der Baubranche zunehmend auf die Innenstadt. Das betrifft sowohl die Altstadt auf der historischen Halbinsel wie auch die alten, nichtmuslimischen Viertel Galata und Pera, das heutige Beyoglu.

Abriss: Das hat dazu geführt, dass auf der Halbinsel am Rande der noch erhaltenen Stadtmauer eines der ältesten Romaviertel der Türkei (Sulukule) abgerissen wurde und die Bewohner an den Stadtrand umgesiedelt wurden.

Pläne: Ein weiteres großes Projekt, das auf Kosten der Bewohner gehen wird, betrifft das Tarlabasi-Viertel in Beyoglu. Dieses Armenviertel soll aufwendig umgestaltet werden. Die Wohnkosten werden in die Höhe schießen, und viele der jetzigen Mieter werden das Viertel verlassen müssen. Stadtplaner haben rund zehn weitere Gebiete identifiziert, auf die ein Aufwertungs- und Umwandlungsprozess zukommt, der viele der heutigen Bewohner vertreiben wird.

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Hier, schaut euch dieses schön sanierte Haus an. Soll auch abgerissen werden“. Cigdem Sahin schüttelt den Kopf. Immer wieder zeigt sie auf Gebäude, die erst vor Kurzem instand gesetzt wurden und demnächst trotzdem der Abrissbirne zum Opfer fallen sollen. Darunter auch solche, die vor wenigen Jahren mit EU-Geldern restauriert wurden.

Die teils mehr als hundert Jahre alten, liebevoll restaurierten Häuser stehen zwischen anderen, die erkennbar noch der Auffrischung bedürfen, und solchen, die kaum noch zu retten sind. Alle zusammen bilden eine historische Wasserfront auf der Südseite des Goldenen Horns, die im ehemals griechischen Viertel Fener beginnt und über das alte jüdische Quartier Balat bis nach Ayvansaray reicht, wo die historische Stadtmauer Konstantinopels, vom Marmarameer kommend, ans Goldene Horn stößt. Es handelt sich um mehrere Uferkilometer, die auf den Plänen, die Cigdem jetzt im Büro der Bürgerinitiative Febayder zeigt, rot umrandet sind und das Gebiet bezeichnen, dass die Stadtregierung erneuern will.

Cigdem ist so etwas wie die Pressesprecherin der Bürgerinitiative. Sie ist Dozentin an der Wirtschaftsfakultät der Universität Istanbul und gehört zu den Bewohnern, die erst in den letzten Jahren hierhergezogen sind. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie eins der kleinen Häuser in der zweiten Parallelstraße zum Ufer gekauft und mit viel Engagement restauriert. In dem einstmals heruntergekommenen und verarmten Viertel sind sie längst nicht mehr die Einzigen, die aus den besseren Bezirken hierhergezogen sind. Etliche andere haben auch schon Häuser gekauft, die vom Verfall bedroht waren, und dann saniert. Beim Rundgang sieht man fast in jedem Haus Schilder in den Fenstern, auf denen „Evemize Dokunma“ steht – zu Deutsch: Lasst unsere Häuser in Ruhe. „Die Leute hier sind geschlossen gegen die Pläne der Stadt“, sagt Cigdem.

Viele müssen umziehen

Ohne die Bewohner zu informieren, hat die von der Regierungspartei, der islamischen AKP, gestellte Stadtregierung, die sowohl den zuständigen Bezirk Fatih kontrolliert als auch den Oberbürgermeister stellt, ein Projekt zur Stadterneuerung initiiert, das den Charakter der historischen Quartiere am Golden Horn völlig verändern und einen Großteil der Bewohner verdrängen wird. Nahezu die gesamte Bebauung vom Ufer bis zur zweiten Parallelstraße soll abgerissen werden. Davon wären mehrere hundert Häuser betroffen. Die Besitzer sollen gezwungen werden, ihre Häuser unter Marktpreis an die Sanierungsgesellschaft zu verkaufen. Wer sich weigert, dem droht die Enteignung, wofür es dann eine geringe Entschädigung geben soll.

Dabei ist das ganze Projekt völlig unmöglich. Die ehemals griechischen und jüdischen Viertel Fener und Balat wurden von der Unesco Mitte der 1980er-Jahre zum Weltkulturerbe erklärt. Die Viertel am Goldenen Horn gehören zu den ältesten noch erhaltenen in ganz Istanbul und sind eine Fundgrube für Historiker und Soziologen. Vor allem das einstmals reiche Fener – die Griechen nannten ihr Viertel Phanar und sich selbst Phanariotes – beeindruckt mit Zeugnissen der Vergangenheit. Vor allem anderen gilt dies für das Patriarchat, den Sitz des Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I., das spirituelle Oberhaupt der gesamten orthodoxen Kirche. Neben dem Patriarchat und der Patriarchatskirche gibt es noch weitere orthodoxe Kirchen sowie das griechische Gymnasium – einen riesigen Backsteinbau, der das Viertel überragt und 2004 fünfhundert Jahre alt wurde. Zwar würden diese Gebäude vom Abriss verschont, aber der Charakter des Viertels wäre völlig verändert. „Unsere Mahalle wäre tot“, sagt Cigdem Sahin. „Mahalle“ – das ist hier das, was für Berliner der „Kiez“ ist.

Die meisten Leute, die heute in Fener, Balat und Ayvansaray leben, sind Einwanderer vom Schwarzen Meer oder Kurden aus dem Südosten des Landes. Nachdem die Griechen in der Folge der politischen Auseinandersetzungen im letzten Jahrhundert fast vollständig vertrieben wurden – von einstmals über 100.000 sind noch rund 4.000 übrig – und nachdem auch viele Juden die Stadt verlassen haben, um nach Gründung des Staates Israel dort zu leben, begann der Niedergang der Viertel.

Die Einwanderer aus Anatolien nutzten die verlassenen Straßen am Goldenen Horn als provisorische Bleibe und zogen weiter, sobald sie genügend Geld zusammenhatten, um sich einen besseren Wohnort leisten zu können. Diese Entwicklung wurde erst in den 1990er-Jahren gestoppt, als die Stadt das Potential der historischen Bausubstanz entdeckte. Künstler und Intellektuelle zogen aus den sogenannten modernen Apartmentvierteln in die alten osmanischen Holzhäuser. Das war auch in Fener und Balat zu spüren.

7 Millionen Euro von der EU

Die Trendwende am Golden Horn kam endgültig mit dem ersten Projekt einer behutsamen Stadterneuerung in Istanbul überhaupt, das die EU mit rund 7 Millionen Euro unterstützte. Ein Team von Architekten und Stadtteilplanern zog nach Fener und begann in Zusammenarbeit mit den Bewohnern die behutsame Stadterneuerung. Fast 200 Häuser wurden von 2004 bis 2007 mit diesem Geld saniert.

„Unser Ziel ist es, die Bewohnerschaft der Viertel zu stabilisieren und dafür zu gewinnen, sich für ihre Mahalle zu engagieren“, sagte die beteiligte Architektin Aysegül Özer damals der taz. Die Leute sollten nicht mehr wegziehen, sobald es ihnen besserging, sondern hierbleiben und für einen neuen Zusammenhalt sorgen. Deswegen mussten sich die Hauseigentümer, die an dem Projekt teilnahmen, verpflichten, ihre Häuser mindestens fünf Jahre lang nicht zu verkaufen.

Das Konzept ging auf. Die Straßen sind wesentlich belebter als noch vor zehn Jahren, die kleinen Geschäfte haben wieder Kunden, und der ebenfalls mit EU-Mitteln sanierte historische Markt in Balat ist bereits zum Geheimtipp für Touristen geworden. Auch das Engagement für ihr Viertel hat die Bewohner nun in einer Weise mobilisiert, dass die Stadtverwaltung die größte Mühe haben wird, ihr Kaputtsanierungsprojekt nach Gutsherrenart durchzuziehen. „Wir lassen uns unsere Arbeit der letzten Jahre nicht kaputt machen“, sagt Ismael, der im Stadtteilbüro der Bürgerinitiative das Telefon hütet. Niemand wird verkaufen.

Innerhalb weniger Monate haben die Bewohner, nachdem sie im letzten Jahr von dem Sanierungsprojekt der Stadtoberen überhaupt erstmals erfahren haben, eine Infrastruktur geschaffen, um sich gegen den Abriss zur Wehr zu setzen. Ein Stadtteilbüro wurde in einem leer stehenden Haus aufgebaut, die Bürgerinitiative ging unter www.febayder.com online, und bei regelmäßigen Treffen werden weitere Aktivitäten diskutiert und wird das juristische Vorgehen koordiniert. Erst vor wenigen Tagen gab es eine Demonstration vor dem Rathaus des Bezirks Fatih.

Die Stadtverwaltung hat auf die Proteste bisher damit reagiert, dass sie Transparente gegen das Projekt durch die Polizei entfernen ließ. Auch dass 38 Häuser, die erst vor wenigen Jahren mit EU-Geldern saniert wurden, dem Projekt zum Opfer fallen würden, spielt bislang keine Rolle. Auftragnehmer für das Großprojekt ist der Celik-Konzern, in dessen Vorstand auch der Schwiegersohn von Ministerpräsident Tayyip Erdogan sitzt. Um Bauprojekte wie das in Fener und Balat überhaupt möglich zu machen, hat das Parlament im letzten Jahr ein Gesetz verabschiedet, nach dem auch in denkmalgeschützten historischen Vierteln abgerissen und neu gebaut werden darf, wenn „übergeordnete städtebauliche Interessen“ das notwendig machen. Für Fener und Balat gibt es eine ganze Reihe solcher „übergeordneten Interessen“. Wegen der zentralen Lage am Goldenen Horn gehört die einst reiche Gegend zu den potenziell profitabelsten Immobilienlagen der Stadt. Dazu kommt, dass die sich seit Jahren entwickelnde neue islamische Bourgeoisie der Stadt gern in die historischen Viertel zieht, aber natürlich standesgemäß wohnen will und deshalb eine entsprechende Nachfrage erzeugt.

In der Bürgerinitiative wird noch ein weiterer Grund genannt, warum ausgerechnet in ihrem Viertel das neue Gesetz erstmals zum Zuge kommen soll. Durch das orthodoxe Patriarchat in Fener könnte in der Gegend so etwas wie ein griechisch-orthodoxer Vatikan entstehen – das jedenfalls fürchtet speziell die politische Rechte. „Das ist zwar Unsinn“, sagt Cigdem, „es könnte aber auch ein Motiv sein, hier durch den Neubau Fakten zu schaffen.“